Kapitel 95

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Jungkooks Sicht:

Etwas angeekelt folge ich Areum die Treppen hinauf zu ihrer Ruine, die sie Wohnung nennt. Das Treppenhaus sieht extrem schäbig aus, da die Tapeten von der Decke hängen und es stinkt nach altem Nikotin und Bier. Ich rümpfe die Nase und starre ihren kleinen Hinterkopf. Hat sie sich so sehr an diesen ekligen Geruch gewöhnt? Irgendwann bleibt sie vor einer Wohnungstür sehen und öffnet diese, ohne sie aufzuschließen.

"Schließ die Tür, sonst kommt der Geruch rein", befehlt sie mir und läuft den langen Flur entlang.

Ich betrete die Wohnung schnell und schließe die Wohnungstür hinter mir. Am Schloss hängt ein Schlüssel, der wohl ihr gehört, da ein kleiner Schlüsselanhänger, in Form eines rosa Elefanten, daran angebracht wurde. Ich drehe mich anschließend zu Areum, die in einem Raum verschwindet. Komischerweise riecht es hier gar nicht übel, sondern ein angenehmer Duft von verschiedenen Waschmitteln liegen in der Luft. Neugierig schaue ich mich im Flur um, aber an den weißen Wänden hängt kein einziges Bild. Auf der rechten Seite befindet sich eine dunkelbraune Tür, auf der bunte Blümchen gemalt wurden. Ich runzle die Stirn und laufe auf diese zu, um zu schauen, was sich in diesem Raum befindet.

Keine Sekunden später stehe ich mit aufgerissenen Augen im Türrahmen und starre das Babyzimmer an. Hat sie nicht gesagt, dass der Spast das Baby nach der Geburt abgegeben hat? Ich gehe in das Zimmer und schaue mir die ganze Deko an. Anscheinend war es ein kleines Mädchen, da auf dem Boden ein rosa Teppich ausgebreitet wurde und die Wände in einem Pastellrosa gestrichen wurden. Das weiße Babybett steht in links in der Ecke und es sieht so aus, als würde da jemand schlafen, weil das Gitter an einer Seite entfernt wurde. Dort liegen auch eine Decke und ein Kissen. Der Wickeltisch und der Schrank auf der rechen Seite sehen unberührt aus.

Augenblicklich fange ich an zu lachen und halte mir meine Hand vor den Mund. Scheiße, der Typ hat sie komplett gefickt. Monatelang durfte sie dieses Zimmer einrichten und sich mit dem Gedanken anfreunden ein Baby großzuziehen, damit er ihr es dann kaltblütig aus dem Leib reißen und weggeben kann. Den Hurensohn hätte ich lieber noch mehr misshandeln sollen.

"Schön, dass du noch so lachen kannst", ertönt ihr Stimme plötzlich hinter mir, sodass ich mich zu ihr drehe.

Erst schaut sie mich mit leblosen Augen an, jedoch werden diese ruckartig größer, nachdem sie sieht, dass mir unkontrolliert Tränen über das Gesicht laufen. Ich kann meine eigenen Emotionen nicht kontrollieren. Das einzig Gute an der ganzen Sache ist, dass ich diese behinderte Lache nicht mehr zurückhalten muss. Wenn ich sie nicht zurückhalte, dann habe ich keine Schmerzen. Ich muss nicht mehr normal wirken. Ich muss meine Emotionen nicht mehr kontrollieren. Ich muss rein gar nichts mehr. Ich muss niemanden gefallen.

"Warum weinst DU denn jetzt?", fragt sie mich sauer und weint gleichzeitig mit mir.

"Ach, ich weine eigentlich gar nicht. Das kommt von meiner Erkrankung. Die lässt mich unkontrollierbar Lachen oder Weinen, wenn ich überfordert mit meinen Emotionen bin oder Schmerzen habe. Meistens kommt beides gleichzeitig, sowie jetzt. Früher wollte ich es immer zurückhalten, weil es mir peinlich war", antworte ich lächelnd und gehe zum Wickeltisch hin, um über die weiche Matte zu streichen.

"Was zum Teufel? Hattest du das schon immer?", möchte sie wissen und ist scheinbar irritiert.

"Nein, aber mein Vater hat mich so oft zusammengeschlagen, dass sich das irgendwann entwickelt hat", erkläre ich ihr und zucke mit den Schultern.

"Der Mann vorhin... Das war dein Vater, stimmt's? Ist er schuld daran, dass du so geworden bist?", fragt sie weiter und starrt mich schockiert an.

"Naja, er hat mir sehr vieles angetan. Aber ich gebe nicht nur ihm die Schuld. Meine ganze Familie hat dazu beigetragen. Ich denke, du kannst dir vorstellen, wie es ist, jeden Tag geschlagen und beleidigt zu werden. Immer und immer wieder... bis du Blut spuckst und schluckst. Jeder schaut nur dabei zu und denkt nicht mal daran zu helfen, weil sie alle denken, dass du es verdient hast. Du bist doch der Gestörte, der noch lernen muss, sich normal zu verhalten. Aber was ist normal? Leiden? Jeden Tag zu leiden? Ständig eine Maske tragen und wie ein Schoßhündchen auf seine Mitmenschen hören? Um die Liebe zu bekommen, nach der man sich die ganze Zeit sehnt...", erzähle ich ihr und schweife langsam in meine Gedanken ab.

Vielleicht hätten sie sich einen Hund anschaffen sollen, anstatt ein Kind zu gebären. Der würde alles tun, egal was sie möchten, um sein Fressen zu bekommen. Der wäre ihnen wenigstens treu. Areum legt plötzlich ihre Hand auf meinen Oberarm und holt mich aus meiner Trance.

"Du bist nicht gestört. Ich weiß genau, wie du dich fühlst. Sie haben dich zum Problem gemacht, obwohl sie das Problem waren. Jede Familie sucht ihr schwarzes Schaf und in deiner Familie warst du das. In meiner Familie war ich das. Wenn irgendwas nicht nach Plan lief, gaben sie dir die Schuld, nicht wahr? Dann wurdest du bestraft, obwohl du nichts dafürkonntest", redet sie auf mich ein und streichelt mir beruhigen über den Arm.

"Dass eine fremde Person besser versteht, wie ich mich fühle, ist einfach nur noch traurig. Ich bin etwas froh, dass ich dich aus meinem Spielraum geholt habe. Du wirst mir bestimmt helfen, etwas Chaos anzurichten, oder?", stelle ich fest und schiebe die depressiven Gedanken ganz weit weg.

"Natürlich, du hast mir auch einen großen Gefallen getan", meint sie lächelnd und deutet auf ihren toten Zuhälter hin.

"Sehr schön. Dafür müssen wir jedenfalls die Wohnung für die nächsten Stunden verlassen und ich missbrauche sie als Versteck vor meiner Familie, ist das okay? Keiner darf mich finden, sonst versuchen sie mich aufzuhalten", erwidere ich und verlasse das Babyzimmer.

"Das geht klar. Sie kennen mich sowieso nicht, also wird das nicht so einfach für sie werden", sagt sie und folgt mir aus dem Zimmer, dabei schließt sie die Tür hinter sich.

Dass eine Nutte so nützlich werden kann, war mir vor einigen Stunden gar nicht bewusst. Mit ihrer Hilfe wird mein kleiner Plan einfach verlaufen. Ich werde sie alle persönlich durch die Hölle gehen lassen, und als erstes sind Stella und Younghyun dran. Wenn sie uns nicht im Einkaufszentrum begegnet wären, dann hätten wir niemals Sungjin und Yunai im Park getroffen. Taehyung und ich wären jetzt immer noch zusammen. Auch wenn er mir nur etwas vorgespielt hat, habe ich seine Nähe vollkommen genossen. Jedenfalls ist die Liebesgeschichte zu Ende und ich werde mich dieses Mal an ihm rächen. Wieso musste er mich ebenfalls in seine Rache reinziehen, wenn er es auf meinen Vater abgesehen hat? Ich bin doch am wenigsten schuld daran, dass seine Eltern verreckt sind und er ein verkorkstes Leben führen musste. Ich werde ihm das heimzahlen.

"Ich habe den perfekten Plan, meine Liebe. Keine Frau würde eine andere Frau im Stich lassen, wenn sie aufgelöst zu ihr kommen würde. Wie nennt ihr das nochmal? 'Sisters before Misters'? Interessiert mich auch nicht. Mich interessiert eher deine Schauspielkunst. Da ich mir ziemlich sicher bin, dass du diese Verzweiflung wunderbar spielen kannst", erkläre ich ihr und grinse sie breit an.

Schlagartig ändert sich ihr Gesichtsausdruck, da ihre Augen riesig groß und starr werden, während sie auf mich zu stolpert und ihre Finger in meinen Unterarm bohrt. Mein Grinsen wird deutlich breiter und ich lege meinen Kopf etwas schief, um sie zu betrachten. Dass sie dieses hübsche Gesicht so verzerren kann, begeistert mich.

"B-Bitte hilf m-mir. Ein Ke-Kerl hat mich belästigt und verfolgt mi-mich", bringt sie über ihre bebenden Lippen und langsam fühlen sich ihre Augen mit Tränen.

"Wow, wenn wir deine Kleidung etwas zerreißen. Dann frisst sie dir ab der ersten Sekunde dieses Schauspiel aus der Hand", lobe ich sie und tätschle ihren kleinen Kopf.

Auf Knopfdruck entspannt sie ihre Gesichtszüge und lächelt mich dann eingebildet an, bevor sie meint, dass sie sich das jahrelang antrainiert hat. Ich möchte nicht wissen, in welchen Situationen, sie ihre Kompetenzen benutzen musste. Wahrscheinlich musste sie bei manchen Kunden ein Stöhnen oder einen Orgasmus vortäuschen. Vielleicht kommt mir sogar das zugute. Ach, Jungkook. Du hast immer so großartige Ideen.

"Okay, zieh dir etwas anderes an, was halbwegs normal aussieht. Wir wollen doch nicht auffallen", fordere ich sie auf, da ich etwas eilig habe.

"Erst wenn wir deine Hand verarztet haben", erwidert sie und geht an mir vorbei, um die Tür hinter mir zu öffnen, die in ein Badezimmer führt.

Genervt schnaufe ich, aber folge ihr ohne Widerworte. Wenn sie das glücklich macht und sie dadurch Ruhe gibt, ist mir das ziemlich recht. 

Revenge | TaekookWo Geschichten leben. Entdecke jetzt