Ich saß vor dem Kamin. Es war richtig kalt geworden. Und dunkel. Und laut. Immer wieder knallte irgendwas gegen die Fenster, und jedes Mal zuckte ich zusammen. Sam war immer noch nicht zurück. Er war seit zwei Stunden weg. Keine Ahnung, wie lange es dauerte, Rinder herumzutreiben, aber irgendwie wurde mir langsam mulmig deshalb. So weit konnte doch diese andere Weide nicht weg sein. Er müsste doch eigentlich längst zurück sein.
Ich wartete. Eine weitere halbe Stunde – dann noch zwanzig Minuten – dann noch zehn ... dann wollte ich Jared anrufen. Er war der einzige Mensch hier, den ich kannte, und Sams Nummer hatte ich nicht, was aus dieser Situation heraus betrachtet völlig kontraproduktiv war.
Mit meinem Handy in der Hand saß ich auf der Couch. Meine Daumen schwebten über dem Bildschirm. Sam würde sauer werden. Er würde ganz, ganz sicher sauer werden, wenn ich Jared auf ihn ansetzte. Und wenn ihm was passiert war? Wenn er am Ende noch verletzt war?
Ich atmete durch. Und genau, als ich auf Anruf tippen wollte, sprang die Haustür auf. Schnell, ruckartig und laut und innerhalb von Sekunden war sie auch schon wieder zu. Ich starrte Sam mit großen Augen an. Er war völlig durchnässt, eigentlich eher voll Schnee, ganz weiß wie ein Yeti. Mit geschlossenen Augen lehnte er an der Haustür und atmete tief und langsam.
»Bist du okay?«, fragte ich und stand wie automatisch auf. Er nickte, atmete einmal heftig aus, nahm seine Mütze ab und legte sie auf die Kücheninsel. Irgendwie wirkte er ein bisschen benebelt. Dann erst schälte er sich aus seiner Jacke und entfernte das Tuch von seinem Hals. Seine Haut darunter war gerötet. Er rieb sich den Nacken, bewegte den Kopf in Halbkreisen hin und her, während er Tuch und Jacke an die Eisenhaken hinterm Kaminofen hängte. Unter meinem auf ihn fixierten Blick nahm er sich eine Dose Dr. Pepper aus dem Kühlschrank, und ich wunderte mich, als er mir auch eine hinhielt. Perplex griff ich zu, viel zu verwirrt, um über darüber nachzudenken, dass der Inhalt dieser Dose wahrscheinlich zu 99% aus Zucker bestand.
»Was ist passiert?«
Sam biss sich auf die Lippe, während er zischend seine Dose öffnete und sie für einen Schluck an die Lippen führte.
»Du warst ewig weg.«
Er nickte. »Ich hab ein Kalb verloren.«
»Oh ...«, platzte es unkontrolliert aus mir heraus. Gleichzeitig verschluckte ich mich an meiner Limo, die nicht nur wie eine Zuckerbombe, sondern auch noch grundsätzlich einfach nur seltsam schmeckte. Mein Magen krampfte sich zusammen, als wollte er mir sagen: Wage noch einen Schluck dieser bodenlosen Frechheit und ich werde dich dafür leiden lassen. Lieber stellte ich die Dose zur Seite.
»Der Schnee hat die Herde überrascht. Das Kalb ist abgerutscht und ... und hat sich verletzt. Ich konnte ihm nicht mehr helfen.«
»Sam, das ... das tut ... mir leid.« Er sah mich so seltsam an. War eine Mitleidsbekundung nicht angebracht? Egal, ich hielt es für richtig, den Tod eines Kälbchens zu bedauern. Das war traurig.
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You See My Heart
RomanceJoana Fraser braucht eine Auszeit. Von ihren Freunden, ihrer Familie, ihrem Leben, das sie schlichtweg nicht mehr erträgt. Sie flieht also, und sie landet im Outback Kanadas, mitten im Wald, in einer Kleinstadt namens Chester's Creek, wo sie bald ih...