»Sam!«
»Verdammt, was machst du denn da?!« Ich weinte inzwischen vor Schmerz, und Sam klang wütend, was das Ganze gerade nicht besser machte. Meine Hand klammerte sich verkrampft an meiner Schulter fest, als würde das auch nur irgendetwas bringen. »Steh sofort auf! Bist du irre?!« Ich konnte nicht. Es ging nicht. Es tat zu weh. Wie gelähmt saß ich da, als befände ich mich in einer nebelumwobenen Trance, die auch Sams Stimme nicht wirklich zu durchbrechen vermochte. »Joanie!«
»Ja, ich ... ich ...«
Er stellte sich zwischen Blake und mich, griff nach meiner rechten Hand und zog mich einfach in die Senkrechte. Dabei riss er so unbedacht an meiner Schulter, dass ich beinahe gleich wieder in die Knie ging vor Entsetzten. Ich wusste nicht, ob ich jemals derartige Schmerzen gehabt hatte, und Sam schien das jetzt auch zu merken, weshalb er meine Hand innerhalb von Sekunden losließ und mich betroffen musterte.
»Was ist passiert?«
Kein Wort brachte ich heraus. Meine Kehle war so eng, so verklebt und trocken und alles zur selben Zeit.
»Okay, ganz ruhig.« Er sah mir an, dass ich Schmerzen hatte, dadurch wurde mir jetzt auch noch schlecht. »Atme ganz langsam, okay?« Ich nickte. Sams Hand legte sich an meinen Rücken, schweigend schob er mich Richtung Boxentür und beförderte mich in den Stallgang. Ich stand vor Schmerz benebelt herum, während er Blake beruhigte und die Werkzeuge einsammelte. Ob er sauer war, konnte ich nicht einschätzen. »Komm mit«, verlangte er mit ruhiger Stimme, aber doch irgendwie streng, und schloss dann noch Blakes Tür. Wieder berührte er meinen Rücken, ich konnte nur widerstandslos tun, was er mir auftrug. Die Stelle, an der seine Hand lag, kribbelte ein bisschen, aber auffallender war die aufkommende Übelkeit in mir. Wenn er jetzt sauer war ...
Kurz darauf fand ich mich auf dem Sofa wieder. Ich saß da, Sam war irgendwo hingegangen, und ich weinte immer noch. Meine Schulter pochte wie wild, und bewegen konnte ich sie auch nicht mehr. Jedenfalls nicht schmerzlos.
Sam kam zurück, ich hatte immer noch das Gefühl, mich in irgendeiner Art Nebelschwade zu befinden, aus der ich nicht ausbrechen konnte. Er schob meinen Laptop und die Notizbücher zur Seite und setzte sich auf den Tisch, genau mir gegenüber hin. »Wo hast du schmerzen?«
»M...Meine Schulter.« Mir brach die Stimme, selbst das Sprechen tat weh. »Vielleicht ... vielleicht ist was ... gebrochen.«
Sam runzelte die Stirn. Er hatte ein paar Sachen in der Hand, eine Art Paket, das er jetzt neben sich hinlegte. »Kannst du mal den Hoodie und das Hemd ausziehen?« Weil inzwischen mein gesamter Körper wehtat, konnte ich nicht einmal darüber nachdenken, dass ich unter dem Hemd nur einen Sport-BH trug. Sam allerdings schien diese Erkenntnis etwas zu irritieren. Er schluckte, nachdem ich mich unter den weltschlimmsten Qualen aus meinen Klamotten geschält hatte, und ich erkannte in seinen Augen, dass er sich zu einem klaren Gedanken zwingen musste. Dass er das schaffte, rechnete ich ihm hoch an, sein Blick hatte nur ungefähr eine Minute lang auf meiner nackten Haut gelegen.
»Ahm ... okay, das ... das sieht übel aus.« Okay, könnte sein, dass seine Irritation dem wahrscheinlich entstandenen Bluterguss an meiner Schulter geschuldet war und nicht meiner Halbnacktheit. Unlogischerweise ernüchtert über diese Erkenntnis nickte ich.
»Es fühlt sich auch übel an«, sagte ich viel zu weinerlich. Erst dann wagte ich einen Blick auf meine Schulter, die tatsächlich jetzt schon eine wilde Mischung aus Grün, Blau und Lila angenommen hatte. Der Farbverlauf zog sich bis zu meinem Schlüsselbein und noch darunter. Mein Sport-BH verdeckte sogar noch den Rand.
»Darf ich?«, fragte Sam, und ich nickte schon, bevor ich überhaupt kapiert hatte, was er meinte. Er schob seine Hemdärmel nach oben, bis über die Ellenbogen, und dann ... dann fasste er mich an. Meine Schulter, mein Schlüsselbein ...
»Aua!« Ich stöhnte auf, dann schnappte ich nach Luft, und schloss die Augen. Mir lief ein Schwall an Tränen über die Wangen und ich zitterte vor Schmerz und inzwischen auch vor Angst. »Das tut so weh, Sam.«
»T...Tut mir leid, ich ... ich wollte nur ...« Seine Hände hatte er inzwischen wieder bei sich. »Joanie, sieh mich bitte an.« Verkrampft atmend öffnete ich meine Augen.
Sam war viel zu ruhig, und seine Ruhe übertrug sich irgendwie auf mich. Er atmete gleichmäßig, sah mir in die Augen. Langsam wurde auch meine Atmung langsamer, besser. Ich bekam wieder Luft. Trotzdem fiel mir auf, dass Sams Gesichtsfarbe einen blässlichen Schimmer angenommen hatte. Erstaunlich, dass er es trotzdem schaffte, mir das Gefühl zu geben, dass alles in Ordnung war.
»Ich muss dich noch mal anfassen«, kündigte er an, und beinahe kam ich mir vor wie ein Pferd. Rede mit ihnen, damit sie immer wissen, was du als nächstes tust. »Es wird vielleicht ein bisschen wehtun, aber ich will nur abtasten, ob es gebrochen ist.« Zeig ihnen, dass du ihnen nicht wehtun möchtest. Ich nickte wie hypnotisiert von seinen Worten, seinen Augen, seiner gesamten Ausstrahlung.
Er hob seine Hände und ich hielt die Luft an, während er langsam meine Schulter abtastete. Es tat immer noch weh, aber ich hielt ganz still, wartete ab. Sam sah so konzentriert aus, es war fast unglaublich. Seine Lider waren gesenkt, manchmal runzelte er die Stirn, und ziemlich oft, sah es aus, als hätte er an eine falsche Stelle gefasst, wenn er plötzlich den Kopf schüttelte.
Es dauerte ewig, so lange, dass ich den Schmerz schon fast vergaß. Seine Hände waren betäubend, seine Berührungen heilend. Ich wusste nicht, ob er wirklich immer noch herauszufinden versuchte, ob meine Schulter gebrochen war. »Sam?« Ich war so benebelt. Er nickte langsam, berührte mich aber immer noch. »B...Bist du ... ein Arzt?«
Kurz, für eine winzige Sekunde, blieb es still. Dann lachte er plötzlich auf, leise, aber spöttisch, als hätte er nie im Leben etwas Lächerlicheres gehört. »Was, ich?«, gab er sich verwundert, aber so abwegig war das nicht. Oder? Er hatte es immerhin irgendwie geschafft, meine Schmerzen einfach wegzumassieren, und er sah dabei so aus, als wüsste er halbwegs, was er tat. »Ich ... ich hasse Menschen, Joanie. Das weißt du doch. Ich habe keine Freunde, schon vergessen?«
Plötzlich sehr getroffen sah ich ihm in die Augen, die jetzt auf eine anders besondere Weise funkelten. Immer noch lagen seine Hände an meiner Schulter, aber sie bewegten sich kaum noch. Nur noch ganz sanft, ganz liebevoll. Unter seinen Fingern kribbelte meine Haut, überhaupt kribbelte inzwischen meine ganze Schulter. Und mein Herz ... das kribbelte auch.
Beim besten Willen konnte ich keinen Hass in Sam erkennen. Nicht in seinen Augen, die sowieso viel zu wunderschön waren, um zu hassen, und auch nicht in seinem Herz. Er hasste die Menschen nicht, er hasste nur, was sie ihm angetan hatten.
»Sam ... ich ...«
Wir schreckten zusammen, weil in dieser Sekunde die Haustür aufstürzte. »Hallo, ich ... Whoa!« Wie vom Blitz getroffen, wich Sam vor mir zurück. Brian starrte uns beide an, in seinen Augen lag der Schock eines Menschen, der zwei andere gerade bei Anzüglichkeiten erwischt hatte.
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You See My Heart
RomanceJoana Fraser braucht eine Auszeit. Von ihren Freunden, ihrer Familie, ihrem Leben, das sie schlichtweg nicht mehr erträgt. Sie flieht also, und sie landet im Outback Kanadas, mitten im Wald, in einer Kleinstadt namens Chester's Creek, wo sie bald ih...