»Du musst Jo sein.« Wie vom Blitz getroffen fuhr ich herum und ... erstarrte in Mitten der Bewegung. Beinahe fiel mir sogar die Mistgabel aus der Hand. Seit Tagen hatte Sam nicht mehr richtig mit mir gesprochen, auch in der Stadt war ich kaum gewesen, der Klang einer menschlichen Stimme war deshalb denkbar fremd für mich.
Das musste Brian sein – er sah aus wie Sam. Einen Hauch größer war er und wohl auch älter. Er hatte dieselben hübschen Augen, groß und braun, und ein ähnliches Lächeln, wobei es breiter und fröhlicher aussah als Sams. Echter, als hätte er tatsächlich gute Laune. Seine Haare waren kürzer, aber auch gelockt und dunkelbraun. Ja, der Mann, der da vor mir stand, war ganz eindeutig Sams Bruder.
»Und du musst mein Brieffreund sein«, platzte es erstaunlich schlagfertig aus mir heraus. Brian lachte, kam auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen.
»Gut erkannt. Brian Finley. Hallo.« Ich hob meine Hand, bemerkte, dass sie völlig mit Dreck beschmiert war und zog sie wieder zurück. Aber Brian schnappte sie sich und grinste mir abtuend entgegen. »Ich bin auf einer Ranch aufgewachsen.« Er zwinkerte, woraufhin ich spürbar rot wurde. Dann wandte er sich ab und widmete seine Aufmerksamkeit Sky, die schon ihren Kopf aus der Box streckte. »Na, wie geht's dir, meine Kleine?«
»Sam hat sich gut um sie gekümmert«, verspürte ich den plötzlichen Drang, Sam vor seinem Bruder zu verteidigen. Er war sauer auf ihn, hatte er doch gesagt. Brian schnaubte nur, worauf ich mir irgendwie keinen Reim machen konnte. Ich stellte mich neben ihn, um ihn besser ansehen zu können. Seine Hand fuhr in langsamen Kreisen über Skys Hals, was sich sogar auf mich irgendwie beruhigend auswirkte.
»Davon geh ich aus ...«, murmelte er.
»Der Tierarzt war da und ...«
»Der Tierarzt?« Er blickte mich derart verwirrt an, dass ich kaum wusste, was ich jetzt sagen sollte. Oder durfte. Ich nickte also nur, obwohl ich mir auf einmal nicht mehr sicher war, ob ja die richtige Antwort war. »Er hat einen Tierarzt kommen lassen?« Ich starrte nur völlig verwirrt vor mich hin. Brian zog die Stirn in Falten, dann blitzten seine Augen auf einmal, als hätte ihn eine Erkenntnis getroffen, aus der er mich allerdings ausschloss. »Verstehe ...«, meinte er viel zu nachdenklich, fing dann aber wieder an zu lächeln, wodurch er mich sofort ansteckte, »... wo ist er denn, mein kleiner Bruder?«
Ich zog die Schulter hoch.
»Keine Ahnung«, brummte ich um einen winzigen Hauch vorwurfsvoller als geplant. Ich hatte Sam in den letzten Tagen kaum zu Gesicht bekommen, und das nervte mich.
In der Stadt wurde über mich getuschelt, da schien mich niemand so richtig zu mögen. Und hier lebte ich mit einem Miesepeter zusammen, dem meine Gegenwart offensichtlich zuwider war. Allerdings war ich es sowieso gewöhnt, meine Zeit allein zu verbringen, auch zuhause hatte ich nicht viele Freunde gehabt. Wieso also sollte das hier anders sein? Mir entwich ein geknickter Laut, den Brian sofort zum Anlass nahm, um meine Schulter zu stupsen. Irritiert musterte ich die Stelle, die er berührt hatte.
»Kümmert er sich nicht um dich?«
Nur ein jämmerlich leises Schnauben brachte ich hervor.
»Kümmer du dich doch um sie, Mann.« Brian und ich fuhren gleichzeitig herum, blickten in Sams belustigt funkelnde Augen. Ganz langsam kam er auf uns zu, den Blick direkt auf seinen Bruder gerichtet.
»Sammy!« Das Lächeln auf Brians Gesicht wurde mit einem Mal noch breiter, und sogar Sam sah plötzlich zutiefst glücklich aus. Wie lange die beiden sich wohl nicht mehr gesehen hatten? Wie von einem Magneten angezogen fiel Sam seinem Bruder in die Arme, und Brian zog ihn fest an sich. Ich blickte verlegen lächelnd zur Seite, weil dieser Moment so intim wirkte. Die beiden hatten sich offensichtlich mehr als nur vermisst, so wie das aussah.
»Hast du Emily gar nicht mitgebracht?« Jetzt verschwand das Lächeln aus Brians Gesicht, während er langsam den Kopf schüttelte. Sam starrte ihn nur an, schien sich kaum einen klaren Gedanken daraus formen zu können. »Sie ...« Brian schluckte schwer, dann sah er kurz zu mir, wodurch ihm anscheinend einfiel, dass ich noch da war. Was wohl auch der Grund dafür war, dass er nicht weitersprach.
Betretene Stille breitete sich aus, und eigentlich wusste ich, dass ich besser gehen sollte. Doch das würde ziemlich seltsam rüberkommen. So offensichtlich. Lieber räusperte ich mich leise, um gleich darauf etwas zu sagen. »Hey, Jungs? Was ... was haltet ihr von Eistee?«
Sam verdrehte die Augen, und das tat er absichtlich deutlich. Ich hatte in den letzten Tagen immer wieder Eistee gemacht und er hatte so getan, als fände er das unglaublich schrecklich. Dauernd hatte er sich beschwert, dass die Kanne den Kühlschrank verstopfte, dass es überall nach Tee duftete, dass ich ihm in der Küche im Weg stand ... Und doch hatte er dann immer wieder ein Glas getrunken, ich hatte gemerkt, dass die Kanne immer leerer geworden war.
»Klingt doch gut«, meinte Brian mit einem mahnenden Blick zu Sam, der daraufhin schnaubte und nickend aus dem Stall verschwand. »Gott ...«, stöhnte Brian kopfschüttelnd auf. »Ist der schon die ganze Zeit so zickig?«
»Mehr oder weniger ...«
»Vollidiot«, murmelte Brian noch leise, bevor er ebenfalls den Stall verließ. Ich trottete wie ferngesteuert hinterher. Brian trug keine Jacke, obwohl es echt kalt war, stattdessen hatte er nur ein kariertes Hemd an, dessen gereue Kapuze er sich jetzt über den Kopf zog. »Ganz schön kalt.« Er fröstelte heftig, wahrscheinlich mit Absicht, weshalb ich unweigerlich über ihn lächeln musste.
»Ist es da, wo du wohnst, nicht so kalt?«
Er sah mich kurz an, dann erschien wieder ein Schmunzeln auf seinen Lippen. »Doch, schon.« Er verschränkte die Arme, um sich kräftig zu rubbeln. »Aber hier ist es irgendwie ... anders kalt.« Da sagte er was. Es war wirklich anders kalt. Viel durchdringender, viel eisiger, einfach frostig.
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You See My Heart
RomanceJoana Fraser braucht eine Auszeit. Von ihren Freunden, ihrer Familie, ihrem Leben, das sie schlichtweg nicht mehr erträgt. Sie flieht also, und sie landet im Outback Kanadas, mitten im Wald, in einer Kleinstadt namens Chester's Creek, wo sie bald ih...