»Mar...kus!«, krächzte ich, mich völlig überfordert an den letzten Rest meiner Stimme klammernd. »Hallo.«
»Hey.« Seine Stimme klang sanft und liebevoll. Das hatte ich kaum bis gar nicht erwartet, weshalb mir auf einmal wieder die Tränen kamen. Ich hörte ihn durchatmen, dann räusperte er sich. Ich wartete. Es raschelte wieder. »Was ... Ich meine, wieso ... Geht's dir gut? Es ist drei Uhr nachts bei dir, oder?« Er wusste, wie spät es bei mir war? »Wieso rufst du monatelang nicht an und meldest dich dann plötzlich mitten in der Nacht?«
Da lag kein Vorwurf in seinem Satz, nur ehrliche Verwirrung. »Weil ich ... ich weiß auch nicht.« Fest umklammerte ich mein Telefon. Ich stellte mir meinen Bruder vor, wie er in seiner überteuerten Eigentumswohnung in Kitzbühel auf seinem ebenfalls überteuerten Bett saß und verschlafen an die Wand starrte, während er mit mir sprach. Er war ganz sicher gerade erst aufgewacht. Mein Bruder war kein Mensch, der morgens auch nur eine Sekunde früher aufstand als unbedingt nötig.
»Du weißt nicht, wieso du mich anrufst?«
»Doch, ich ...«
»... du brauchst Geld. Richtig?«
Das vielleicht auch. Gleichzeitig glaubte ich, da war noch etwas anderes. Etwas nicht Greifbares, das mir ein bisschen wehtat und mir ein bisschen die Luft zum Atmen nahm. Vermissen. Ich vermisstemeinen Bruder, jetzt war es passiert. Ich drehte offiziell durch.
»Oder hast du mich vermisst?« Mein Herz stolperte. Er las meine Gedanken, über den Atlantik hinweg und akkurat wie immer. Er war ein Schwein, das mich ausgelacht und gehänselt hatte, wenn ich keinen Nachtisch essen durfte, aber er war mein Bruder und er kannte mich. Ich war nicht traurig, dass er weit weg war, aber gut fühlte es sich auch nicht an. »Gib's zu, du weinst dich jede Nacht in den Schlaf, weil du mich nicht mehr jeden Tag siehst.«
Mir entglitt ein Lachen.
»Ja, ich vermisse deine miese Morgenlaune unglaublich. Keine Ahnung, wie ich es so lange aushalten konnte, ohne dich jeden Tag im Büro ertragen zu dürfen.«
»Das weiß ich auch nicht, kleine Schwester. Ich für meinen Teil, könnte bald mal wieder damit leben, wenn du zurückkämst.«
Ich stutzte. Und ich glaubte, Markus wunderte sich ebenfalls über seinen eigenen Satz. Kurz blieb es still. Zu still für meinen Geschmack, aber ich sagte nichts. Erinnerte mich an sein verschlafenes Gesicht, das ich kannte, seit ich auf der Welt war. Diese halbe Stunde jeden Tag, in der mein Bruder, Markus Fraser, Staranwalt und Vorzeigesohn, ein ganz normaler Mensch war. Eine halbe Stunde zwischen Aufwachen und seinem Weg ins Büro, in der er sich erlaubte verstrubbelt auszusehen.
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You See My Heart
RomanceJoana Fraser braucht eine Auszeit. Von ihren Freunden, ihrer Familie, ihrem Leben, das sie schlichtweg nicht mehr erträgt. Sie flieht also, und sie landet im Outback Kanadas, mitten im Wald, in einer Kleinstadt namens Chester's Creek, wo sie bald ih...