1. Dein Vater wäre stolz gewesen

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Eric

Sanji stützte kraftlos seinen Arm auf die Tischplatte und sah mit schläfrigen Augen auf meine Notizen. „Möchtest du schlafen?", fragte ich sanft und beobachtete, wie seine roten Augen zu mir schnellten. „Nein, nein. Ich hör' dir zu.", widersprach er und sah kurz zwischen mir und den Notizen hin und her. Ich lächelte leicht und erwiderte: „Es ist okay, wenn du müde bist. Ich kann dir das auch morgen noch erklären." Sanji schüttelte sofort den Kopf und blinzelte schnell, um die Augen dann aufzureißen und sich etwas aufzurichten. „Nein, du hast dir extra Zeit für mich genommen. Ich höre zu.", sagte er und nickte zu den Notizen. „Wie du meinst.", erwiderte ich und sprach weiter. Jedoch sah ich im Augenwinkel, wie sein Kopf auf seine Hand sank und wenig später seine Augen zu fielen. Kurz darauf drohte sein Kopf auf die Tischplatte zu fallen. Also fing ich ihn schnell ab und legte ihn sanft auf das Holz.

„Ach Sanji.", flüsterte ich und strich ihm die hellen Strähnen aus dem Gesicht. Sie hatten immer noch einen dunklen Schimmer von der Haarfarbe. Er sah so friedlich aus, wenn er schlief. Seine Augenbrauen lagen so entspannt über seinen Augen. Sie waren nicht mehr ängstlich verzogen. Genauso wie seine Nase oder sein Mund.

Sanft strich ich über seinen Kiefer, bis auch dieser sich entspannte. „Du warst so unglaublich klein, als ich dich das erste Mal halten durfte. Sie hatten alle Angst, ich würde dich fallen lassen.", wisperte ich und strich über seine Ohrmuschel. „Aber schon damals wusste ich, dass du besonders bist und dass du meinen Schutz brauchst.", fügte ich leise hinzu und ließ meine Finger durch seine Haare fahren.

„Eric?"

Erschrocken zog ich die Hand zurück und sah zur Tür. Shota.

Er lächelte leicht und lehnte sich in den Türrahmen. „Entschuldigung, ich wollte nicht stören. Ihr saht grade sehr vertraut aus.", sagte er und verschränkte die Arme. „Wie lange stehst du schon da?", fragte ich. Shota zuckte mit den Schultern und erwiderte: „Lang genug." Sein Blick ging zu Sanji.

Wenn man die beiden so nebeneinander sah, sahen sie sich gar nicht so ähnlich. Sanji hatte viel härtere Züge. Seine Lippen schimmerten in einem kräftigeren Rot und waren auch etwas schmaler als die seines Vaters.

„Ich hatte keine Angst, dass du ihn fallen lässt. Man konnte in deinen Augen sehen, wie wichtig dieses Vertrauen dir war. Außerdem wusste ich wie du mit Maro umgegangen bist.", sagte Shota leise und stieß sich von dem Türrahmen ab. „Sanji vertraut dir.", fügte er hinzu und trat neben seinen Sohn. „Damals wie heute.", murmelte er und strich durch Sanjis Haare. „Danke.", wisperte Shota und sah mich wieder an. „Danke, dass du auf meine Kinder geachtet hast. Ich hätte dir viel früher danken müssen.", führte er aus und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Shinji ...", setzte ich langsam an. Doch er unterbrach mich und sagte: „Ich weiß, dass du es nicht für mich getan hast. Aber ich bin dir dennoch dankbar." Ich nickte leicht und stand auf. „Wir sind eine Familie. Sowas tut man für seine Familie.", erwiderte ich und hob Sanji von seinem Stuhl. Verschlafen murrte er und schlang seine Arme um meinen Hals. Leicht drückte er sein Gesicht an meine Brust und ich fühlte seine Stirn an meiner Haut.

„Eric.", hörte ich Shota sagen, bevor ich das Labor verließ. „Dein Vater wäre stolz.", sagte er, als ich mich noch einmal zu ihm herumdrehte. Ich nickte verstehend und schloss die Tür.

Er wusste nichts von meinem Vater. Er wusste nichts von mir. Mein Vater wäre enttäuscht. Aber wusste ich etwas über meinen Vater? Auch die Dinge, die ich glaubte über Shinji beziehungsweise Shota zu wissen ... sie waren nicht wahr gewesen. Der Shinji in meiner Erinnerung hätte nie Zwiespalt gesäte. Was musste Raluca ihm angetan haben, dass er so gegen Alphas ist?

Mit meinem Ellenbogen drückte ich den Knopf des Aufzuges und achtete darauf, Sanjis Kopf nicht gegen die Wand fallen zu lassen. Es war nichts Neues. Seit sieben Jahren saß er jeden Abend in meinem Labor und versuchte zu lernen. Doch während der großen Welle hatte es angefangen, dass er dabei einfach einschlief. Ja, er war ein Vampir. Aber wir alle ernährten uns seit Jahren nur von Tierblut und dazu noch zu wenig. Sanji tat viel und half mir überall so gut er konnte.

Ich trat in den Aufzug und wählte die dritte Etage.

Er vernachlässigte sogar Ranga. Was ich nicht unbedingt guthieß, aber ich tat es ja genauso. Ich könnte auch die Arbeit hinwerfen und jede Woche stand ich mindestens einmal davor. Alles wegzuwerfen und zu Lydia zu fahren. Egal, wie gefährlich es dort draußen war. Mein Herz schmerzte, wie noch nie etwas geschmerzt hatte. Sie glaubte immer noch, ich würde sie für dieses Kind hassen, wenn sie nicht schon tot war. Das wusste ich nicht, ich wusste nichts.

Ich atmete tief durch und trat auf den Flur. So spät liefen keine Kinder mehr über die Gänge. Risa und Nael hatten sie sicher alle nach Hause geschickt. Mein Weg führte mich an dem Kindergarten und an der Bibliothek vorbei in den Wohnbereich.

Mit dem Fuß klopfte ich an die eiserne Tür und wartete darauf, dass Ran öffnete.

„Bringst du ihn mir auch mal wach.", murrte er und nahm mir seinen Freund ab. „Ich zwinge ihn nicht bei mir zu bleiben.", erwiderte ich und lehnte mich in den Türrahmen, um zu beobachten, wie mein Bruder seinen Freund ins Bett legte.

Ranga war wirklich ein Alpha geworden. Eine schreckliche Entwicklung für Shota. Aber eine ganz nachvollziehbare für die Wissenschaft. Beta und Alpha war vom Charakter abhängig. Ranga war nicht mehr der kleine Junge, der meine oder Moes Hilfe benötigte. Im Gegenteil, er hatte eine Familie in Sanji gefunden, die er selbst beschützen hatte müssen. Vor Constantin. Er hatte sich nicht auf einen anderen Alpha verlassen können und war deswegen selbst zu einem geworden. Das war jetzt auch in seinem Körper angekommen. Sein sonst so schlanker, athletischer Körper war breiter geworden und strahlte mehr Stärke als Ausdauer aus.

„Er wird nicht freiwillig aufhören. Du weißt, dass er sich sonst nutzlos fühlt. Du musst ihn dazu bewegen, mehr zu schlafen. Er ist entkräftet und seine menschlichen Perioden helfen ihm dabei nicht grade.", sagte Ranga und deckte den Omega zu.

Noch im selben Monat, in dem ich ihn in die Unterstadt gebracht hatte, zeigten sich Nebenwirkungen. Durch die dauerhafte Nutzung des Mittels hatten einige seiner Zellen sich nie ganz erholt. Deswegen kam in jedem Monat die Zeit, in der Sanji menschlich erschien. Es fing an damit, dass er sich übergab und kein Blut mehr vertrug. Es war meist eine Woche, in welcher er immer schwächer wurde trotz Nahrung und dann brach es wieder schlagartig ab. Wieder übergab er sich und blieb krank, bis sein Körper es geschafft hatte, die menschliche Nahrung aus seinem Körper zu schaffen.

„Ich versuche mein Bestes.", erwiderte ich und beobachtete, wie Ran sich seufzend auf die Bettkante setzte. „Mach dir keinen Kopf. Ich werde eine Lösung finden, damit es ihm besser geht.", fügte ich hinzu. „Tu das.", sagte er erschöpft und sah zu mir auf. „Schlaf gut.", wünschte ich ihm und zog die Tür zu.

Uns allen hatten diese Jahre viel abverlangt. Doch einigen sah man es mehr an als anderen.

Vamp Zone 《4》Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt