18. Küsse als Retter

31 6 2
                                    

Kenneth

Ich wusste nicht, ob sie es gewusst haben und ihn deswegen auf mich angesetzt hatten. „Vio.", hauchte ich leise und ließ meinen Daumen über seine Ohrmuschel wandern. Seine Augenlider zuckten leicht und ich beobachtete schmunzelnd, wie er sich verschlafen über die Lippen leckte. Dann schlug er zögerlich die Augenlider auf. Doch an dem Punkt verlor er seine Müdigkeit und fuhr auf. Panisch rutschte er an den Baumstamm und presste die Decke an seine Brust.

„Hey, beruhig dich.", sagte ich leise und streckte eine Hand aus. Seine unterschiedlichen Augen starrten mich entgeistert an und ich fand es erschreckend, wie abgemagert sein Gesicht erschien. „Du lebst.", kam es rau über seine Lippen. „Du hattest mich ja auch noch nicht gefunden.", erwiderte ich und setzte mich auf meine Fersen. „Du weißt es.", krächzte er leise und ich konnte sehen, wie seine Anspannung fiel. Ich nickte langsam und zwang mich zu einem kleinen Lächeln.

„Du hättest mich töten können.", stellte er fest und seine Augen weiteten sich doch noch einmal. „Ich denke nicht, dass du mich töten wirst. Denn das musst du nicht.", erwiderte ich und legte meine Hände auf meine Oberschenkel. Als ich merkte, dass Favio meine Hand nicht nehmen würde. „Das ist nicht so einfach.", erwiderte er leise und schob seinen Fuß unter der Decke hervor. Um sein schlankes Fußgelenk zog sich eine metallene Schelle. Ein dauerhaft grün leuchtender Punkt zeigte ihre Aktivität. „Sie überwachen mich.", sagte er leise und zog sie schnell wieder zurück. „Sie zeigt ihnen alles.", fügte er hinzu und zog die Decke fester um seine Schultern. „Das bekommen wir hin. Das ist nur Technik.", erwiderte ich und erhob mich. Sofort versuchte auch er auf die Beine zu kommen, fing aber an zu schwanken und ich musste ihn abfangen. „Warum bist du so panisch?", fragte ich und legte die Decke etwas fester um ihn als ich sah, wie er anfing zu zittern. Seine Finger griffen schwach in meine Kleidung und wenig später presste er sich an mich. „Ich will dich nicht töten.", schluchzte er plötzlich und vergrub seinen Kopf an meiner Halsbeuge. Erst da erkannte ich das Messer in seiner Hand. Zitternd umklammerte er den Griff. Jedoch war die Klinge von mir abgewandt. Also legte ich sanft meine Hand um seine und zog die Waffe aus seinen Fingern. Schluchzend ließ er das zu. Ich warf das Messer beiseite und nahm ihn dann gänzlich in meine Arme. „Du bist alles, was ich habe.", hörte ich ihn winseln. „Wie können sie das von mir verlangen?", schluchzte er und ich fühlte, wie seine Tränen meine Brust hinunterliefen.

Seine Eltern hatten ihn in diese Sekte, wie er sie nannte, hineingezogen. Er kannte diese Leute von klein auf. Umso mehr erstaunte es mich, dass er sich hatte lossagen können von deren Meinungen und Vorgehensweisen. Auf der anderen Seite hatten sie so kein Druckmittel. Sie würden nie auf die Idee kommen, Leute aus ihren eigenen Reihen abzuschlachten, um jemand unwichtigen wie Favio dazu zu bringen, jemanden zu töten. Aber dadurch hatte er recht. Seine Eltern wären nicht für ihn da, waren sie nie, wenn ich an seine Erzählungen dachte. Diese Sekte war ein Kollektiv und jeder war für jeden zuständig. Wenn ich daran dachte, dass Victor dort beinah aktiv hineingerutscht wäre ... nein, Danke. Was wäre dann mit Jacob?

„Vio, du kannst loslassen. Du bist hier in Sicherheit. Du suchst jetzt sieben Jahre, obwohl du weißt, dass du es nicht tun wirst.", sagte ich und strich durch sein langes Haar. „Sie lassen mich nicht ohne einen Beweis, dass du tot bist zurück.", winselte er. „Du musst nicht zurück.", widersprach ich und drückte ihn sanft an mich. „Du bleibst bei uns.", fügte ich hinzu. „Uns?", fragte er mit etwas klarer Stimme und hob den Kopf von meiner Brust. „Du bist nicht der einzig Flüchtende.", erwiderte ich und wischte sanft die Tränen von seinem jetzt doch sehr erkennbar dreckigen Gesicht. „Aber die Fessel.", sagte er. Jedoch um einiges ruhiger und gefasster. „Ranga macht das schon. Er ist Jons Bruder und ...", setzte ich an, doch Favio unterbrach mich und fragte: „Du bist bei seiner Familie?" Ich nickte langsam mit dem Kopf. Warum war das wichtig für ihn? „Eric Shi lebt?", fragte er leise. Ich nickte erneut. „Du musst mich zu ihm bringen.", verlangte er. „Mordauftrag?", fragte ich vorsichtig. Doch er schüttelte energisch den Kopf. „Es geht um seine Familie.", erwiderte Favio und löste sich von mir. Seine Beine schienen ihn zwar immer noch nicht wirklich halten zu wollen. Aber er kämpfte sich den Meter zu seinem Unterschlupf und zog eine Tasche hervor, in die er die Decke stopfte. Dann erhob er sich und zog das Hemd von dem Ast, um es überzuziehen. Mittlerweile war ich mir sicher, dass es anfangs weiß gewesen sein musste. Wenn sie ihn nicht zurückließen, hatte er keinen anderen Ort, an den er konnte. Man sah deutlich, dass ihn diese Umstände sehr belasteten. Nicht nur die mangelnde Ernährung, welche ich durch sein knochiges Rückgrat erkannte. Sondern auch psychisch. Er war anders, jung geblieben. Verzweifelt. Ich wusste nicht, wie alt er wirklich war. Aber die Tatsache, dass er jünger als damals wirkt, war sehr deutlich. „Was ist mit seiner Familie?", fragte ich und beobachtete, wie er sein Hemd zuknöpfte. „Sie wissen, wer seine Frau ist. Sie überwachen sie und ich bin mir sicher, dass sie irgendwann verzweifelt genug sind, um sie gegen ihn zu verwenden.", erwiderte Favio und stellte die Tasche nochmal ab, als ihm klar wurde, dass ich ihn nicht ohne Weiteres zu Eric lassen würde. „Das wussten sie auch damals. Sie haben in einem Haus gelebt.", sagte ich und nahm die Tasche auf. „Aber jetzt habe sie Beweise und können so ihr Handeln legitimieren.", rief Favio und folgte mir als ich anfing durch den Wald zu gehen. „Eric denkt, sie sei tot. Vielleicht belassen wir es dabei.", murmelte ich und fühlte im selben Moment wie Favio nach meiner Hand griff. „Du hast selber gesehen, welche Macht Eric hat, wenn seine Familie in Gefahr ist. Es könnte alles ...", setzte er an. Doch diesmal unterbrach ich ihn und erwiderte: „Nein, wir werden Erics Wut nicht als Waffe verwende. Vergiss es. Diese Wut ist schon jetzt zerstörerisch genug." Favio umfasste meine Hand fester und murmelte: „Aber es könnte das Ende bedeuten." „Ja, das Ende der Vampire. Glaubst du, irgendein Mensch würde Verständnis dafür haben? Sie würden sie noch mehr hassen.", erwiderte ich und blieb stehen. „Du redest als wärst du keiner von ihnen.", stellte er fest. Etwas Weiteres was zeigte wie kaputt seine Psyche war. Er konzentrierte sich nicht auf das, was wirklich grade zählte. „Wie kommst du darauf, dass ich einer von ihnen bin? Jon würde einen Teufel tun mich zu verwandeln.", knurrte ich und setzte die Tasche ab. „Aber du bist kein Mensch.", erwiderte Favio und trat auf mich zu. „Ich bin warm, ich trinke kein Blut und ich schlafe nicht in einem Sarg. Ich bin ein Mensch, Favio.", murrte ich und verdrehte demonstrativ die Augen. „Du lügst. Kenneth, ich kenne dich. Wieso ... wieso denkst du, du müsstest mich anlügen. Denkst du, ich spioniere? Das würde ich dir nicht antun.", beteuerte er. „Aber mich töten ist okay?", fragte ich. Doch im selben Moment bereute ich, was ich gesagt hatte. Er hatte es nicht gewollt, nicht getan, nicht wirklich versucht. „Es tut mir leid. Das war so nicht gemeint.", setzte ich schnell hinterher und beobachtete wie Favio leicht anfing zu lächeln. „Ich verstehe das. Ich wollte nur wissen. Wieso du das hier tust. Wie viel du riskierst.", erwiderte er und legte eine Hand auf meine Brust. „Wieso denkst du an die Zeit im Labor? Ich dachte, wir waren uns einig, dass das unbedeutend war.", sagte er leise und legte den Kopf schief. „Du weißt selber, dass sie das nicht war. Du hast mich davor bewahrt durchzudrehen vor Angst. Und dasselbe möchte ich dir geben.", erwiderte ich und merkte wie mein Blick auf seine Lippen ging. Früher waren sie zart, schmal, weich, fast feminin. Jetzt jedoch spröde, teils blutig und zerkaut. Dennoch erinnerte mich die Situation an damals. Das erste Mal in seinem Raum, in dem er Jon diese schreckliche Zahl verpasst hatte.

„Alles okay?", hörte ich die warme, dunkle Stimme des jungen Mannes mit den verschiedenfarbigen Augen sagen. „Ich kann ... ich brauche eine Pause.", keuchte ich leise und schloss verzweifelt die Augen, als sich das Bild der jungen Frau, welche ich grade gesehen hatte, auf den Fliesen widerspiegelte. Diese Fleischwunden und ihr panischer, wacher Blick. Wimmernd ließ ich mich neben der Tür sinken. „Hey, Ken. Warst du unten?", fragte er als könne er Gedanke lesen. Ich nickte leicht und nahm nur abwesend wahr, dass er die Verdunklung herunterließ und sich dann vor mich hockte. „Das tun die, nicht wir. Hör nicht auf, dir das zu sagen. Wir tun unser Bestes.", versuchte er mir einzureden und wenig später fühlte ich seine Hand in meinem Haar. Erstaunt öffnete ich die Augen und sah in seine. Diese unglaublich schönen Farben. Seine Berührung war die erste nach Monaten, die mehr ausstrahlte als nur ein Klaps auf die Schulter oder eine flüchtige Berührung beim Übergeben eines Gegenstandes. „Ken, vergiss das nicht. Ansonsten wirst du hier zerbrechen.", sagte er leise und strich sanft mit dem Daumen über meine Schläfe. „Sie foltern meinen besten Freund.", hörte ich mich selber sagen. „Sie, Kenneth, sie tun das. Aber wir können daran nichts ändern. Hörst du.", erwiderte er und lächelte mich mitleidig an. Doch ich war eigentlich gar nicht mehr anwesend. Meine Gedanken hatten sich verloren und meine Augen sogen gierig diese warmen Farben auf, die mich so viel besser fühlen ließen. „Wie hältst du das aus?", fragte ich leise und sah mir selber dabei zu, wie ich meine Hände auf seine Oberarme legte. „Zuerst Ignoranz. Jetzt bist du es, der mich jeden Tag daran erinnert, dass nicht alle Menschen so sind.", erwiderte er. „Also gib nicht auf.", setzte er gehaucht hinzu. Mein Blick ging auf seine Lippen. Schmal, zartrosa und glatt. Waren sie weich?

Warum auch immer, gab das mir den letzten Schubs. Entschlossen legte ich meine Hände in seinen Nacken und zog ihn zu mir, bis ich meine Lippen fest auf seine pressen konnte. Favio keuchte erschrocken auf, erwiderte aber ziemlich schnell. Legte seine Hände an meinen Brustkorb und zog mich nach oben, ohne seine Lippen von meinen zu lösen, bis wir standen. Mein Rücken immer noch an der Wand. Zitternd vertiefte ich den Kuss und begrub mich in diesem Gefühl, versuchte alles andere zu vergessen und in seiner Anwesenheit Trost zu finden. Doch Favio schien andere Pläne zu haben. Bevor ich mich gänzlich in diesem Gefühl verlieren konnte, löste er den Kuss sanft und sah mir mit schwerem Atem in die Augen.

„Sie sind weich.", hörte ich mich selber sagen. Favio hob belustigt eine Augenbraue und fing dann an zu schmunzeln. „Hilft dir das?", fragte er leise und griff neben mir zu der Schlossverriegelung. Abwesend nickte ich. Wenn es bedeutete, dass er mir dieses Gefühl wiedergeben würde. Wenn ich wieder diese Leere spüren dürfte, gefüllt mit diesem warmen Gefühl. Nur Wärme und dieses aufregende Kribbeln, was ich schon bei meinem ersten Kuss gehabt hatte.

Lange musste ich nicht warten und da lagen seine Lippen erneut auf meinen und ich fühlte seine Arme um meinen Brustkorb, während ich selber meine über seine Schultern legte.

„Mir geht es gut.", hörte ich ihn sagen. „Ich konnte so leben. Du hättest einfach nur wegbleiben müssen. Sie hätten dir nicht wehgetan.", fügte er hinzu und seine Hand wanderte in meinen Nacken. „Sie können uns nichts mehr. Favio, Ranga wird deine Fessel lösen und dann wird dir nichts mehr passieren.", erwiderte ich und legte eine Hand an seine Hüfte um ihn zu stützen, da seine Beine erneut anfingen zu zittern. „Ich bring' dich zu ihm.", sagte ich erneut und hob die Tasche an, um mit ihm den Weg zurückzugehen.

Vamp Zone 《4》Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt