01 | Alea

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Egal wo ich hinsah, die kalte Dunkelheit um mich herum verschluckte alles.

Ich spürte die Eiseskälte bis tief auf die Knochen und ich wusste nicht, wo ich mich befand. Tief atmete ich die abgestandene Luft ein, hob meine Arme vor mich und machte einen kleinen Schritt nach vorne. Da mich nichts stoppte, tat ich einen weiteren Schritt, der mich eindeutig mehr Mut kostete. Meine flache Hand stieß gegen etwas, dass sich unter meinen Fingerspitzen anfühlte, wie eine Gitterwand. Langsam tastete ich mich an dem Gitter entlang. Ich tastete mich immer weiter, bis ich an eine Ecke stieß. Wo war ich?

Metall knirschte auf Metall; eine abrupte Anfahrbewegung brachte den Boden unter meinen Füßen zum Schwanken. Der Ruck kam so plötzlich, dass ich hinfiel. Erschrocken kroch ich auf Händen und Füßen rückwärts. Trotz der kalten Luft stand mir der Schweiß auf der Stirn. Mit dem Rücken stieß ich gegen eine Wand, die wohl gegenüber lag von der, die ich eben abtastete. Ich zog die Knie an den Körper und hoffte, dass meine Augen sich bald die Dunkelheit gewöhnten.

Bestimmt holte man mich gleich hier raus. Aber wo war hier überhaupt? Ich konnte mich nicht erinnern, hier reingeklettert oder reingefallen zu sein. Scheinbar war ich auch alleine und egal wie viel ich darüber nachdachte, mir fiel beim besten Willen kein vernünftiger Grund ein, warum ich hier eingesperrt war. Was mir aber mehr Angst machte, war, dass ich nicht einmal genau sagen konnte, seit wann ich hier drinnen war. Ob mich jemand verschleppte? War ich eine Gefangene?

Mit einem weiteren Ruck fuhr der Raum schwankend nach oben wie ein Aufzugskorb in einem Kohlebergwerk.

Hartes Knirschen von Ketten erfüllte den Raum und hallte mit einem hohlen, blechernen Echo von den Wänden. Der stockdunkle Aufzug schwankte so stark hin und her, dass sich mir der Magen umdrehte. Ein Geruch von verbranntem Öl machte alles nur noch schlimmer. Mir war so übel, dass ich am liebsten vor Angst geweint hätte, aber es kamen keine Tränen; ich konnte einfach nur dasitzen, allein, warten und hoffen, dass ich mich nicht vor meine Füße übergeben musste.

Ich starrte dorthin, wo ich die Decke des Raumes vermutete. Langsam erkannte ich, trotz Dunkelheit, einige Umrisse. Der gesamte Raum war von Gitterwänden umgeben. Ich fuhr an einigen leuchtenden Neonröhren vorbei, die für den Bruchteil einer Sekunde alles ausleuchteten. Es war ziemlich klein, doch ich konnte mich frei bewegen. Der Raum fuhr immer weiter nach oben und ich wusste weder, wohin er mich bringen würde, noch warum.

Ich heiße Alea, dachte ich.

Das ... das war das Einzige, was ich über mich selbst wusste.

Ich verstand nicht, wie das möglich war. Mein Gehirn funktionierte einwandfrei, ich war mir über meine Lage völlig im Klaren. Fakten und Bilder, Einzelheiten und Erinnerungen an die Welt und wie sie funktionierte waren da. Vor meinem inneren Auge sah ich Schnee auf Bäumen, wie ich durch eine Straße voller Herbstlaub rannte, eine Pizza aß, schummrigen Mondschein auf einer Wiese, Schwimmen in einem See, den belebten Platz einer Großstadt, über den Hunderte von Menschen eilten, am Himmel funkelnde Sterne.

Und trotzdem wusste ich nicht, woher ich kam oder wie ich in diesen dunklen Aufzug geraten war oder wer meine Eltern waren. Ich kannte nicht einmal meinen Nachnamen. Bilder von Menschen tauchten in meinem Kopf auf, doch ich erkannte niemanden, statt Gesichter sah ich nur verschwommene Farbflecken. Mir fiel nicht ein einziger Mensch ein, den ich kannte, kein einziges Gespräch.

Der schwankende Raum fuhr weiter nach oben. Die Kisten, die ich vorhin entdeckt hatte, rutschten über den harten Gitterboden. Ich wurde in schwindelerregende Höhe gezogen und bekam es langsam mit der Panik zu tun. Vehement starrte ich auf die Neonröhren, an denen ich immer wieder vorbeikam. Nach einer Weile hörte ich das unentwegte Rasseln der Ketten nicht mehr, die mich hoch hinaufzogen.

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