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»Er wurde gestochen.« Jaspers Hand lag immer noch auf meinem Bauch. Unsicher betrachtete ich Gally. Er wirkte wütend, aufgebracht und bereit, uns umzubringen. In der einen Hand hielt er den Schlüssel, den wir fallen gelassen hatten, als sich das Tor mit dem Code öffnete, in der anderen eine Pistole.

Den Schlüssel schmiss er achtlos neben sich auf den Boden. Er weinte, schniefte und schüttelte den Kopf. »Wir können hier nicht weg.« Seine Stimme zitterte, als er die Worte aussprach. Die Hand, in der er die Waffe hielt, zitterte mindestens doppelt so stark, wie seine Stimme.

»Doch können wir Gally, wir sind draußen! Wir sind frei!« Thomas hob beschwichtigend die Hände, aber so langsam, um Gally nicht zusätzlich zu reizen. Er und Jasper drängten uns andere zurück.

»Frei?« Gally klang wenig überzeugt. Er stieß einen kläglichen Lacher aus. »Denkst du, da draußen wären wir frei? Nein ... nein, von diesem Ort hier gibt es kein Entkommen.« Schniefend hob er die Pistole an und hielt sie auf Thomas gerichtet.

Vor lauter Angst spürte ich, wie mir das Herz gleich aus der Brust zu springen drohte. Wir wichen alle zurück, Thomas hielt weiterhin seine Hände oben, als könnte das was bringen. Gally schluchzte, Tränen liefen ihm über die Wange.

»Gally ...«, redete Thomas weiter auf ihn ein, »jetzt hör doch mal zu. Du kannst gerade nicht klar denken. Wirklich ... aber wir können dir helfen! Du musst die Waffe weglegen.«

»Ich gehöre dem Labyrinth!«

»Nimm einfach die Waffe runter.« Thomas drängte uns mit seinen Schritten weiter nach hinten.

»Wir alle gehören ihm«, erwiderte Gally bloß.

Dann geschah alles gleichzeitig. Ich hörte Chuck schreien, jemand riss mich hinter sich und schützte mich mit seinem ganzen Körper. Der Schuss fiel und Minho warf einen Speer.

Ich sah über die Schulter, wie Gally nach Luft schnappte. Keuchend zog er die Luft in seine Lungen, obwohl es zu spät war. Minhos Speer ragte aus Gallys Brust und ich war mir ziemlich sicher, dass er das Herz getroffen hatte. Er sank auf die Knie, ließ die Pistole fallen und kippte zur Seite weg. Sein Blick ging ins Leere und seine Hand zuckte noch ein letztes Mal, bevor er regungslos liegen blieb. Fassungslos starrte ich auf Gally. Er war tot. Er atmete nicht mehr. Das ging alles so schnell, dass ich erstmal verstehen musste, was gerade überhaupt geschehen war.

»Thomas ...?«, hörte ich Chuck röcheln. Alarmiert drehte ich den Kopf zu ihm. Sein Atem rasselte und Tränen schossen ihm in die Augen. Mein Blick fiel auf seine Brust. Ein blutroter Fleck bildete sich auf seinem Hemd. Vor Entsetzen riss ich meine Augen auf.

»Chuck!« Thomas fing Chuck auf, bevor dieser zu Boden fiel. »Oh nein ... shit! Shit! Sieh mich an, sieh mich an, sieh mich an... okay. Okay, Chuck sieh mich an, Kumpel, halt durch. Shit. Halt durch.« Er drückte seine Hand auf Chucks Brust. Der Blutfleck wurde immer größer und färbte sein Hemd Stück für Stück rot.

Chuck keuchte und stöhnte. Panisch drückte ich mich an Jaspers Brust. Ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten. Chuck lag da, Thomas über ihn gebeugt, beide weinten. Bestimmt musste Chuck höllische Schmerzen haben.

»Nein, nein Chuck. Du wirst es ihnen selber geben, weißt du noch? Das hab ich dir doch gesagt.« Ich wusste nicht wovon Thomas sprach. Ich war unfähig, mich zu bewegen, starrte nur auf Chucks braune Locken.

»Tu du es«, flüsterte er mir schwacher Stimme.

»Nein, nein ... nein...«, stotterte Thomas und versuchte dabei das Blut zu stoppen.

»Danke ...«

Thomas fuhr Chuck hilflos über die Wange, hielt sich an seiner Jacke fest, versuchte das Blut weiterhin zu stoppen, doch Chucks Atem ging immer schneller und leiser.

»Chuck ...?« Erst war es nur ein Flüstern, aber als Thomas keine Antwort erhielt, sagte er seinen Namen lauter. »Hey! Chuck, komm schon! Komm schon, wach auf... komm schon, bitte. Wach auf.« Er legte seinen Kopf auf Chucks Bauch und ließ seinen Tränen freien Lauf.

Ich drückte meine Nase gegen Jaspers Brust und konnte ebenfalls nicht anders, als zu weinen. Ich versuchte, meine Tränen so leise wie möglich zu vergießen, aber meine Schluchzer konnte ich nicht unterdrücken.

»Wach auf, Chuck ... ich flehe dich an. Wach auf«, weinte Thomas kraftlos in sein Hemd. »Wir habens geschafft, komm schon, wach auf. Es tut mir so leid.«

Ich krallte mich an Jasper fest, war kurz davor zu fallen. Vielleicht fiel ich schon, vielleicht war ich schon fertig mit fallen und auf dem Boden aufgekommen. Vielleicht war ich es, die gestorben war. Ich hoffte es. Chuck war zu jung zum Sterben. Wenn ich mich nicht hinter Jasper und Thomas versteckt hätte, sondern bei Chuck geblieben wäre oder ihn gar nicht erst hätte vorgelassen, dann hätte die Kugel mich treffen können. Er war doch noch ein Kind ...

༻༺

Menschen kamen aus dem Tunnel. Sie trugen Ausrüstungen, stürmten rein, aber ich bekam alles kaum mit. Meine Hände waren schweißnass, ich krallte mich an Jaspers Schulter fest und weinte unkontrolliert. Chuck verdiente es zu leben. Da war noch so viel, was es für ihn zu entdecken gab. Er war wie ein Bruder für mich.

Ich hörte Thomas Schreie wie durch eine dichte Nebeldecke. Man packte unsere Arme und zog uns aus dem Raum. Weg von den Toten, weg von Chuck. Verschwommen sah ich, wie Thomas damit kämpfte, bei Chuck zu bleiben. Er schrie, er weinte, er schluchzte. Ich fühlte mich mit einem Mal so leer.

Man begleitete uns aus dem Flur, nach draußen. Die Helligkeit brannte in den Augen. Überall lag Sand. Weiter weg standen noch ein paar zerstörte Gebäude. Die Umgebung war kahl, nur ausgedorrte Bäume standen vereinzelt herum, als gehörten sie nicht hier her.

Wir, die Überlebenden, rannten auf einen Helikopter zu, der in der Nähe des Ausganges wohl auf uns wartete. Rechts, links, vorne und hinter uns rannten die uniformierten Menschen mit uns mit. Jasper und ich waren einer der ersten, die durch die offene Tür sprangen. Dabei fühlte ich gar nichts. Wir waren zwar frei, aber zu welchem Preis?

Thomas war der letzte, der in den Helikopter sprang. Schon startete der Pilot den Motor. Die Rotoren drehten sich immer schneller und als die Tür zugemacht wurde, startete er.

»Alles okay, Leute?«, fragte ein Mann, der mit uns im Helikopter saß. Er zog sein Halstuch vom Mund und ließ um den Hals liegen. »Keine Angst, ihr seid jetzt in Sicherheit!«, rief er über den Lärm hinweg.

Keiner hatte die Kraft, ihm darauf zu antworten, stattdessen sahen wir alle aus dem Fenster und beobachteten, wie der Heli in die Luft stieg und am Labyrinth vorbeiflog. Unter anderen Umständen wäre das vielleicht ein interessanter Ausblick gewesen, aber ich konnte mich nicht entspannten. Aus der Lichtung rauchte es immer noch.

Langsam sank ich wieder auf den Boden des Helikopters. Auch die anderen rutschen zurück auf ihre Plätze. Außer dem stetigen Motorengeräusch war es still im Innenraum. Keiner sagte ein Wort, wir alle schienen nur unseren Gedanken hinterher zu hängen.

»Entspannt euch, Kids. Alles wird sich verändern«, meinte der Mann von eben wieder. Wieder antwortete ihm keiner. Wir waren alle zu geschockt von den vorherigen Ereignissen.

Ich sah meinen Freunden nach einander in die Gesichter. Keiner war glücklich. Jeder kämpfte mit den Tränen und mit seinen inneren Dämonen. Dabei müssten wir glücklich sein. Es war vorbei. Wir waren frei. Wir waren in Sicherheit.

Als Jasper und ich den Raum identifizierten, dachte ich, dass es unser aller Ende war. Ich dachte, Janson und Ava Paige kamen jeden Moment aus einem Raum und nahmen uns wieder fest. Aber ich hatte mich getäuscht. Wir wurden gerettet. Uns wurde die Möglichkeit gegeben, noch einmal neu anzufangen. Weg von den Experimenten. Weg von der Brutalität.

Ich lehnte mich an Jasper an und starrte nach draußen. Hätte ich damals geahnt, auf was ich mich einließ, als ich in dieses Gebäude trat ... ich wäre niemals weitergelaufen. Andererseits hätte ich die anderen auch nie kennengelernt. Ich hätte Jasper niemals kennengelernt und er hätte alleine da durchgemusst.

Mit geschlossenen Augen tastete ich nach Jaspers Hand und verschränkte unserer Finger miteinander. Das Schicksal hatte uns zusammengebracht und wollte, dass wir uns dieser Prüfung stellten. Und genau das hatten wir nun geschafft.

Endlich waren wir frei

RUNNERS - Wir sind nie sicher ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt