05

42 6 8
                                    

»Alea.«

Ich zuckte zusammen, doch bevor auch nur ein Ton meine Lippen verlassen konnte, legte sich eine warme Hand über meinen Mund. »Psst, wir wollen doch Chucky und die anderen nicht wecken.« Newt war über mich gebeugt und legte einen Finger auf seine Lippen. »Ich muss dir was zeigen.« Da Newts Hand immer noch über meinem Mund lag, konnte ich bloß nicken. Es war noch sehr früher Morgen, der Himmel wurde gerade erst heller. »Gut, folge mir.« Er drehte sich von mir weg und schlich sich zwischen den schlafenden Jungs hindurch. Schnell schwang ich meine Beine aus der Hängematte und folgte ihm.

Als Newt die Schlafenden hinter sich ließ, rannte er los, direkt am Wald vorbei, auf die dicken Mauern zu. Ich nahm die Beine in die Hand und folgte ihm so schnell ich nur konnte, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Innerhalb weniger Sekunden machte ich die Meter, die er bereits zurückgelegt hatte, wieder wett und holte auf. Mir fiel auf, dass er beim Rennen ein bisschen humpelte und deswegen nicht ganz so schnell war.

Vor einem winzigen Fenster blieb er stehen. Weit und breit schien es das einzige Fenster in der gesamten Mauer zu sein. Vorsichtig schon er die Efeuranken zur Seite und bedeutete mir, durch das Fenster zu sehen. »Was ist da?«, fragte ich leise. Ich hoffte, dass er meine Angst in der Stimme überhörte.

»Da draußen ist das Labyrinth«, flüsterte Newt, die Augen wie in Trance aufgerissen, »alles, was wir tun – unser ganzes schönes Leben, Frischling, dreht sich um dieses Labyrinth. Jede verfluchte Sekunde, jeden verfluchten Tag verbringen die Läufer im Labyrinth und versuchen es zu lösen, obwohl wir keinen Schimmer haben ob es überhaupt einen Ausgang gibt. Und ich will, dass du kapierst, warum man dem werten Labyrinth niemals auf den Kopf spucken sollte, verstehst du? Ich will dir zeigen, warum das Tor jeden Abend zugeht. Dir zeigen, warum du nie, nie, niemals auf die hirnrissige Idee kommen solltest, deinen Arsch da reinzubewegen.«

Ich musste hart schlucken. Scheinbar hatte er meine gestrige Unterhaltung mit Chuck mitbekommen. Und offensichtlich hielt er mich für mindestens genauso schwach, wie die anderen Lichter, was zugegeben echt weh tat.

»Aber -«

Newt unterbrach mit einem Kopfschütteln. Wieder deutete er auf das viereckige Fenster. Ich lehnte mich runter, so weit, bis meine Nasenspitze gegen die eiskalte Glasscheibe stieß. Er wollte mir etwas Angst machen, was auch immer das war. Aber genauso wenig wie Chuck würde es auch Newt nicht schaffen, mich von meinem Vorhaben abzubringen; ich musste einfach Läuferin werden. Ich wollte mir den anderen das Labyrinth nach einer Lösung durchforsten, nicht zuletzt deshalb, weil mich das Gefühl nicht losließ, all das hier schon einmal gesehen zu haben.

Ich nahm eine schnelle Bewegung im Augenwinkel wahr; nicht gerade sonderlich grazil, eher ungelenk. Etwas kam auf das Fenster zugeschossen und klatschte gegen die Scheibe. Erschrocken hielt ich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzuschreien. Das Glas saß zwar noch bombenfest im Kasten, doch mein Herz schien beim Aufprall aus der Brust gesprungen zu sein, so schnell wie es gerade schlug. Was war das? Genauso schnell, wie es gekommen war, war es auch wieder fort. Ich erkannte, wie es auf großen metallenen Spikes lief. Darüber quoll schleimiges wabbeliges Fleisch. Angewidert verzog ich das Gesicht und bemühte mich, einen Würgereiz zu unterdrücken.

Newt nickte zufrieden. Scheinbar hatte ich das gesehen, was er mir zeigen wollte. »Newt, was war das?« Meine Stimme klang eine Spur kälter, als vorhin. Er hörte das Gespräch mit Chuck mit und jetzt wollte er mir Angst wachen.

»Das war ein Griewer. Und wenn du ohne Erlaubnis in dieses Labyrinth gehst, werden sie dich finden und töten, sobald die Mauern verschlossen sind. Nur ausgebildete Läufer, die sich auch wirklich auskennen, finden rechtzeitig zurück. Gehst du da einmal rein, ohne eine Ausbildung, dann kann dir keiner mehr helfen.«

RUNNERS - Wir sind nie sicher ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt