Kapitel 35

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Tief versinken ihre Füße im matschigen Boden des Friedhofs.

Kurz nachdem Ann den Brief gefunden hatte, hat sich das Verlangen in ihr groß gemacht an diesen Ort zu fahren. Darum hat sie Nero bei sich zuhause gelassen, um sich sogleich auf den Weg zu machen.

Und nun ist sie hier. Auf dem mit dichten Eichen und Buchen umringten Friedhof.

Einige Krähen sitzen auf den Ästen und erheben ihre Stimmen. Bis auf deren krächzen ist es jedoch totenstill. Alles zusammen wirkt es sehr mystisch und düster.

Tief atmet Ann ein und aus. Den Brief fest in ihrer Hand. Ihre Beine führen sie wie von selbst zu ihren Eltern.

Den Weg ist sie schon einige Male nach ihren Tod gegangen. Damals war sie täglich für einige Stunden bei ihnen gewesen.

Einfach um zu weinen.

Zu trauern.

Oder von ihrem Tag zu erzählen.

Ann bleibt vor einem eleganten schwarz-weißen Marmorstein stehen.

Auf ihm steht:

Stefan Janson

geb. am: 09.05.1976

gestorben: 24.05.2018

Rose Stella Janson

geb. am 30.05.1980

gestorben: 24.05.2018

Sie blickt den Grabstein mit traurigen Augen an. Das Gefühl, was sich tief in ihr befindet, ist noch genau das gleiche wie damals. Wie das kleine verwaiste Mädchen, was auf einen Schlag beide Eltern verloren hat. Das, was jeder bemitleidet hat.

"Hey Mom. Hey Dad. Ich bins." Flüstert Ann mit belegter Stimme.

Langsam lässt sie sich auf die feuchte Wiese nieder. Die Unterschenkel tut sie dabei unter ihre Oberschenkel.

"Ich habe euren Brief gefunden. Und ich dachte mir, dass ich ihn mit euch zusammenlese."

Kurz schweigt sie, um auf eine nicht kommende Bestätigung zu warten. Tief ein und ausatmend öffnet sie kurz darauf den Brief in ihrer Hand.

In dem Briefumschlag liegen ein Foto und zwei Seiten mit einem Text.

Ihre Augen fokussieren sich zuerst auf das Bild. Es zeigt ihre Eltern und sie auf einem Spielplatz. Ann sitzt, über beide Ohren grinsend, auf einer Schaukel. Ihre Eltern stehen links und rechts von ihr. Auch sie blicken breit grinsend in die Kamera.

Traurig lächelt sie bei dem Anblick. Wie gerne sie jetzt die Zeit zurückdrehen würde, nur um die Momente mit ihnen noch einmal erleben zu können.

Nachdem sie es einige Minuten gedankenverloren angestarrt hat, packt sie es wieder zurück in den Umschlag. Danach nimmt sie den eigentlichen Brief, um ihn sich näher anschauen zu können. Laut liest sie kurz danach vor.

Hallo Engel,

Wenn du diesen Brief liest, sind wir vermutlich schon lange tot. Wahrscheinlich konntest du eine sehr lange Zeit unser Schlafzimmer nicht betreten. Was auch mehr als verständlich ist.

Dennoch möchten wir nicht, dass du nur in der Vergangenheit lebst. Es gibt so viele schöne Dinge, die du dadurch verpasst. Das Leben ist zu kurz dafür. Denn wenn du endlich erkennst, dass du vieles verpasst hast, ist es bereits zu spät.

Wir wollen nicht, dass das so kommt. Du sollst ein Leben mit viel Glück, der großen Liebe und Erfolg haben. Und wer weiß, vielleicht findest du ja deinen Mate. Das Schicksal schreibt so viele schöne Kapitel für dein Leben, lass dich nicht den wenigen schlechten oder traurigen von dem Weg wegführen.

Uns hat es immer so sehr geschmerzt dich weinen zu sehen. Wegen uns oder wegen der Schule. Du bist so ein großartiges Mädchen und hast das echt nicht verdient. Ein langes glückliches Leben, das hast du verdient. Es schmerzt uns außerdem sehr, dass wir keinen großen Teil von diesem einnehmen können. Doch vergiss nicht irgendwann, wenn du alt und grau bist und die Zeit reif ist, werden wir uns wieder sehen im Paradis. Dort werden wir dich dann ganz fest in die Arme nehmen und alles nachholen.

Doch bis dahin tu alles, wofür du die Gelegenheit hast. Sei es noch so hirnrissig.

Eine Bitte haben wir allerdings an dich. Verkaufe die alten Möbeln in dem Schlafzimmer und spende das Geld. Die Klamotten passen dir mit Sicherheit jetzt besser als damals, deswegen behalte sie. Gott, allein wenn wir daran denken, wie bildschön du geworden bist, kommen uns die Tränen.

Mache bitte aus dem Raum einen Hobbyraum für dich. Wir wissen du brauchst viel Platz dafür.

Es definitiv zu früh für uns gewesen. Und es tut uns so leid, dich einfach allein zu lassen. Wir würden mit Sicherheit ein anderes Los wählen, wenn wir könnten. Doch jetzt ist es zu spät. Wir merken, wie es langsam zu Ende geht. Alles wird schwerer. Die Kräfte schwinden. Vielleicht bleiben uns noch ein paar Tage. Vielleicht auch nur noch Stunden. Wir wissen es nicht.

In ewiger Liebe

Mom + Dad

24.05.2018

P.S. Wir hoffen, du hast deinen Kindheitstraum mit dem kleinen Atelier erfüllt.

Immer mehr Tränen entfliehen ihren Augen. Sie vermisst sie so sehr.

Wie ein tiefes Loch fühlt sich die innere Leere bei ihr an.

Ein Loch, was sich über die Jahre hinweg erweitert hat. Und sich von ihrem Verlust und der Traurigkeit ernährt.

Doch nun hat sie Gewissheit, dass sie nicht zurückblicken soll. Und sie haben recht, das Leben ist wirklich zu kurz, um dieses Loch weiter zu ernähren. Denn irgendwann wird sie im Rollstuhl sitzen oder am Rollator sein und dann ist es zu spät.

"Mom. Dad. Ihr habt vollkommen recht. Ich danke euch für alles." Sie umarmt den Grabstein. Dabei schließt sie die Augen.

Und als würden sie ihrer Tochter ein Zeichen geben wollen, erscheinen warme Sonnenstrahlen. Sie verteilen sich auf den bisher so düsteren Friedhof und lassen ihn freundlicher wirken.

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