Kurze Zeit später haben sie mir das Spiel erklärt und Michael hat begonnen. Es ist eigentlich nicht so kompliziert, wie ich am Anfang gedacht habe und schnell bin ich mitten im Spiel. Ich bin so aufs Spiel konzentriert, dass mir vor lautem überlegen warm wird. Ohne zu überlegen kremple ich meine Ärmel hoch.
Ich bemerke einen Blick auf mir, besser gesagt auf meinem Arm. Erschrocken ziehe ich Luft ein und verdecke meinen Arm. Als ich meine Spielfigur auf einen neuen Standort setzen will, kreuzt sich mein Blick mit dem von Mason. «Was war das, Louisa?», fragt er mich direkt. «Nichts», sage ich schnell und versuche mit dem Geschehen auf dem Spiel abzulenken.
«Zeig es mir.», verlangt Mason fordernd. Die anderen schauen nun verwirrt zu Mason. «Was meinst du?», fragt Jack besorgt. «Louisa, zeig es uns.», sagt Mason mit Nachdruck. Ich kralle meine Ärmel in meine Fäuste. Auf keinen Fall werde ich ihnen meine Armen zeigen. Vor kurzem habe ich mich dort noch geritzt. «Michael, halt sie mal», gibt Mason seinem Bruder Anweisungen. Michael vertraut seinem Zwilling auch ohne weitere Erklärungen und hält mich an beiden Armen fest. Zu viel Körperkontakt! Ich merke, wie meine Atmung sich verschnellert.
«Stopp», bringe ich leise wimmernd heraus. Sie sollen sofort aufhören! «Michael, lass sie los.», meint Jack bestimmt. Ich danke ihm in Gedanken. Michael hält mich weniger stark fest, lässt mich aber nicht ganz los.
«Mason, erkläre uns bitte was los ist.», bittet ihn Nick. Vor Angst kralle ich meine Nägel in meine Handfläche. Er darf nichts sagen. Ich richte meinen Blick auf den Boden und wünsche mir, dass ich aus dieser Situation fliehen kann. Einfach unsichtbar werden, diese Superkraft könnte ich nun gebrauchen.
«Louisa, ich habe es gesehen, es ist zu spät.», meint Mason entschuldigend. «Ich werde es ihnen nun zeigen.», sagt er weiter und stellt sich hinter mich. «Nein Mason, bitte, das kannst du nicht tun.», bitte ich ihn. Dann kommen wir aber Alys Worte in den Sinn, dass es keine Rolle spielt, was ich möchte, und sofort verstumme ich. Um mich zu beruhigen, versuche ich einige Male tief durchzuatmen. Es ist unmöglich.
Plötzlich bemerke ich, wie Michael vor mich kniet und meine Hände hält. Er schaut mir von unten in die Augen. Eine Träne rollt langsam über meine Wange. Sie dürfen es nicht sehen. Sanft versucht er meine Fäuste zu öffnen. Es gelingt ihm nicht wirklich. Auch wenn ich weiss, dass ich das tun sollte, was die anderen von mir möchten, kann ich meine Finger nicht dazu bringen, nicht mehr so verkrampft zu sein.
Plötzlich sind Hände auf meinen Schultern. Erschrocken zucke ich zusammen und drehe mich um, damit ich sehen kann, wer mich betatscht. Mason.
Er streicht mir über meine Arme, bis er vorne bei meinem Handrücken ankommt. «Komm schon.», flüstert er mir leise ins Ohr. Michael, der immer noch nicht weiss, um was es geht, streicht mir sanft über den Handrücken.
Die anderen scheinen zu merken, dass es um etwas ernstes geht. Sie halten sich alle still und beobachten die Szene. Warum bin nur ich immer die Hauptperson?
Millionen Gedanken gehen mir durch den Kopf. Nick hat ihnen erst gerade erzählt, dass ich anscheinend zu wenig essen würde. Es kann nun nicht schon wieder ein neues Problem von mir aufgedeckt werden. Ich mache es wirklich nicht extra.
«Ssshht.», flüstert mir Mason ins Ohr und versucht mich zu beruhigen. «Komm schon, öffne deine Fäuste.», meint er. Immer mehr Tränen laufen über meine Wangen. Ich versuche aufzustehen, damit ich von hier verschwinden kann. Die Zwillinge reagieren aber sofort. Mason drückt mich von oben runter und Michael packt meine Hände fester. «Zeig es uns, dann ist es vorbei. Ich lasse nicht locker.», meint Mason. Er spricht nun lauter.
In einem kurzen Moment, in dem ich nicht genug aufmerksam war, gelingt es Michael meine Faust zu öffnen und Mason krempelt mein Ärmel hoch. Ich habe keine Chance mich zu wehren, da meine andere Hand in Michaels gefangen ist. Schnell bemerkt Mason, dass er am linken Arm nichts findet. Er deutet Michael an, dass er meine andere Hand öffnen soll. Mit mehr Kraft versucht er meine Faust zu öffnen. «Es reicht.», schreitet Jack ein, doch in dem Moment gebe ich aufgrund der Schmerzen in meinen Finger nach und öffne die Hand. Sofort erkennt Mason, dass er mein Ärmel hochschieben kann und tut es sogleich auch. «Hab ich doch richtig gesehen.», sagt Mason enttäuscht. Michael sucht von unten Augenkontakt. «Warum tust du das? Warum tust du dir selber weh?», er klingt so verletzt. Warum interessiert ihn das? Warum findet er es so schlimm?
Die anderen bleiben still. Alle sind geschockt. Meine Atmung normalisiert sich langsam wieder. Aber die Tränen werden nicht weniger. «Alle raus.», sagt Nick mit Nachdruck. An seiner Stimme kann ich erkennen, dass er wütend ist Niemand bewegt sich. Da ich nicht negativ auffallen will versuche ich meine Hände von Michaels zu befreien und den Raum wie Nick wünscht, zu verlassen. Doch Michael lässt sie nicht los. «Du nicht Louisa.», sagt Nick, der wohl mein Fluchtversuch bemerkt hat. «Louisa ist auch meine Schwester, ich will wissen, was los ist.», sagt Ethan. Nichts ist los. Jack versteht mich am besten: «Wir wollen alle wissen, was los ist und dass es ihr gut geht. Aber im Moment ist sie überfordert, wir können nicht alle drinsitzen und mit ihr sprechen. So weit ist sie noch nicht. Deshalb, alle raus.», langsam bewegen sich Noah und Aiden. Wobei mir Aidens angeekelter Blick trifft. Beschämt blicke ich wieder nach unten. «Ihr auch, alle raus.», betont Nick nochmals.
Langsam steht Mason auf und geht Ethan folgt auch gleich, jedoch mit einem mürrischen Gesichtsausruck. Michael drückt mir noch die Hände, schenkt mir ein trauriges Lächeln und folgt dann seinem Zwilling. Ich spüre, wie Jack näher zu mir rutscht. Er streckt seinen Arm aus und drückt mich an seine Schulter. Komischerweise empfinde ich es nicht als zu viel Körperkontakt, sondern bin gerade froh darum, dass mir jemand Liebe zeigt. Ich weine mich an seiner Schulter aus.
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Meine neue Familie
Teen FictionWarnung! In dieser Geschichte sind Ritzen und Magersucht eins der Hauptthemen! Begleitet Mirja auf ihrem Weg in ihre neue Familie. Als ich mit meiner Familie aus den Ferien zurück flog, kam plötzlich ein fremder, junger, gutaussehender Mann auf uns...