Kapitel 21

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  In meinem Zimmer zieht sie eine Wage aus ihrer Tasche. Ihr geht es doch nicht ganz gut! Wieso hat sie eine Wage in ihrer Tasche? Sie legt sie auf den Boden und deutet mir an mich drauf zu stellen. Langsam komme ich ihrer Aufforderung nach. Würde ich leicht genug sein?     

Die Ziffer auf der Wage leuchtet auf und zeigt 48.5 an. Ich bin also schon ein bisschen leichter als letztes Mal. Kein Wunder, hier esse ich ja auch überhaupt nicht mehr so viel, wie zuhause. Aly scheint mit dem Ergebnis jedoch nicht zufrieden zu sein. "zu fett", sagt sie nun. "Schau dich mal im Spiegel an." Energisch schiebt sie mich richtung Spiegel. Tatsächlich. Überall ist zu viel Fett dran: an den Beinen, am Bauch, an den Armen und sogar im Gesicht an meinen Wangen! Beschämt von meinem Anblick senke ich meinen Kopf. Aly zieht mich hinter sich ins Bad. Dort sucht sie etwas und kommt dann mit meinem Rasierer zu mir. Mit einer Pinzette nimmt sie  eine Klinge raus und drückt sie mir anschliessend in die Hand. Fragend schaue ich sie an. "ritz dich." Mit einem Blick auf das App zog ich geschockt Luft ein. Was bitte verlangt dieser Mensch da. Ich schaue sie einfach an und tue es nicht. "Mach schon.", fordert sie mich ungeduldig auf. "Warum", frage ich nur leise. "Du musst nicht alles hinterfragen", sagt sie arrogant. Als ich immer noch nichts mache, krempelt sie mir ungeduldig den rechten Ärmel hoch. Ich starre auf meinen Arm. Schön ist er nicht gerade, aber wer hat bitte einen schönen Arm? Plötzlich klatscht ihre Hand auf meine Wange. Auf die gleiche wie Mom mich heute schon geschlagen hat. Es brennt fürchterlich. Mit Tränen in den Augen sehe ich Aly an. "Wie oft noch, du sollst mir nicht in die Augen sehen!", zischt sie. Sie nimmt grob meine Hand mit der Klinge und legt sie auf meinen linken Arm. Sie drückt leicht und zieht durch. Sofort dringt rotes, warmes Blut über meinen Arm. Warum tut sie mir das an? Es brennt ein bisschen. Ein bisschen fest.

Aly liess mich noch drei weitere Striche ziehen. Ich tat es. Reklamieren bringt nichts bei ihr. Bald wird eine aussehstehende Person von mir denken, dass ich mir die Narben freiwillig zugefügt habe. Was werden meine Brüder von mir denken? Werden sie mich verspotten oder werden sie mir glauben, wenn ich ihnen die Wahrheit sage? Werden sie mich nach Hause schicken? Ich suche nach einem Verband im Badezimmer. Schliesslich finde ich einen und lege ihn um meinen Arm. Damit der Verband nicht sofort ersichtlich ist, ziehe ich ein blauer Pullover über. Wieder in meinem Zimmer wartet bereits Aly auf mich. Sie sitzt auf meinem Bett und betrachtet ihre langen, rosanen Fingernägel. "Hör zu, Kleine." Sie sieht mich abwertend von oben herab an. "Du wirst niemandem, wirklich niemandem von dem hier erzählen." sie greift nach meinem linken Arm und drückt zu. Direkt auf die neuen Wunden. Ich muss einen Schrei unterdrücken und die Tränen treten mir in die Augen. Wieso tut sie das? "Wenn ich erfahre, dass du deinen hässlichen Mund nicht  gehalten hast, wird das schlimmere Konsequenzen haben, die du dir nicht mal in deinem Fliegenhirn vorstellen kannst. Haben wir uns verstanden?  Du wirst dich nach jedem Essen übergeben, damit du endlich mal dünner wirst. Wenn es dir nicht gut geht, dann darfst du dich auch ritzen. Ich meine es doch nur gut mit dir..." Ich nicke leicht und sehe auf den Boden. "Gut", murmelt sie und verlässt mein Zimmer. Ich lege mich aufs Bett und starre zur Decke. Was soll ich nun tun? Wieso sind Aly und meine Mutter so stark gegen mich. Was habe ich getan? Ich kenne sie nicht mal richtig und sie mich auch nicht. Kurze Zeit später klopft es an der Tür. Ich rufe ein leises Ja und kurze Zeit später steckt Jack seinen Kopf rein. "Alles gut?", fragt er und tretet ein. Ich nicke leicht, aber schaue ihm dabei nicht in die Augen. Er sieht mich skeptisch an, nickt dann aber. "Wir gehen heute Abend essen. Wir wollen feiern, dass Mom und du euch nun verstehen.", meint er glücklich und zieht mich in eine Umarmung. Etwas überrumpelte erwidere ich seine Umarmung. Und es tut einfach gut gehalten zu werden. Tränen schiessen schon wieder in meine Augen. Ich merke erst jetzt, wie verzweifelt ich bin. Die ganze Geschichte mit Aly und meiner Mom geben mir mehr zu schaffen, als ich dachte. Ich unterdrücke die Tränen schmerzhaft, damit Jack nachher nicht fragt, was los ist und ich dann nicht lügen kann. Er löst mich langsam von mir und schaut mir tief in die Augen. Ich versuche seinem Blick auszuweichen und überall ausser in seine Augen zu schauen. "Mirja", meint er sanft. Ich wende meinen Blick immer noch nicht von meinem Schrank ab. "Mirja, schau mich an." sagt er bestimmt. Langsam löse ich den Blick und schweife zu ihm rüber. "Ist wirklich alles gut?", fragt er besorgt und streicht vorsichtig über meine Wange. Das ist eigentlich für meinen Geschmack zu viel Körperkontakt, aber ich liess es zu. Was soll ich auf seine Frage antworten. Theoretisch ist nichts in Ordnung. "Es sieht aus, als ob du geweint hättest.", murmelt er mehr zu sich selbst. "Ehm, also ich... ich habe gerade ein eh ein bisschen Heimweh.", lüge ich ihn nicht wirklich überzeugt an. Er schaut mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. "Mach dich fertig", meint er nur. "Wir gehen in einer halben Stunde. Zieh dir am besten ein Kleid oder so an."

Mit diesem Satz lässt er mich mit einer grossen Frage stehen: Was soll ich anziehen?! Ich öffne die Schranktür und finde schliesslich ein dunkel rotes Kleid, dass mir fast bis zu den Knien geht. Es ist Schulterfrei, hat aber lange Ärmel. Noah hat es damals beim Einkaufen so sehr gefallen, dass er es einfach gekauft hat. Schnell dusche ich und ziehe es mir anschliessend an. Die geritzte Haut, die während dem duschen ziemlich geschmerzt hat, binde ich wieder in den Verband ein. Ich will nicht riskieren, dass jemand den Verband sieht. Die Haare lasse ich mir offen über die Schulter fallen. Zum Schluss schminke ich mich leicht. So fertig. Ich schaue auf die Uhr und sehe, dass bereits eine halbe Stunde vorbei ist. Es klopft an meiner Tür und Aiden tretet ein, ohne auf meine Erlaubnis zu warten. "Schick", kommentiert er. Er trägt ein schwarzes Hemd mit dunklen Hosen. "Bist du fertig", fragt er mich. Als ich nicke nimmt er mich wie ein kleines Kind an der Hand und zieht mich hinter sich her. Wir kommen die Treppe runter. "Schaut mal unsere hübsche Schwester an!", ruft Jack und zieht mich in eine starke Umarmung. Ich lächle leicht. "So ich bin auch hier wir können gehen.", meint Noah, der gerade die Treppe runter kommt. Na dann, gehen wir doch feiern, dass meine Mom mich lieb hat.

... nicht!

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