"Wie du gestern von Mom erfahren hast, heisst du nicht richtig Mirja." Angespannt nicke ich. Was wird das jetzt. "Wir werden dich ab jetzt Louisa nennen. Wir werden nicht länger einen fake-Namen für dich benutzen.", geschockt schaue ich ihn an. Sie können mir doch nicht auch noch das letzte, was ich von meiner Familie habe wegnehmen. Meinen Namen! Als ich meinen Mund öffne um zu reklamieren meint er nur: "Mom hätte es so gewollt."
Ich schliesse meinen Mund wieder und gucke ihn an. Langsam nicke ich. Was hab ich schon für eine Wahl...
Dieser Abend gleicht dem Vorabend. Alle bis auf Ethan sitzen im Wohnzimmer und starren Löcher in die Luft. Mit den Behörden wurde bereits heute viel geregelt. Wir haben den anderen Familienmitglieder die Vorschläge für die Beerdigung mitgeteilt und sie waren einverstanden. Die Beerdigung findet in einer Woche statt.
Nach einiger Zeit nutzlos rumsitzen, entscheide ich mich, Kuschelsocken anzuziehen und verlasse deshalb das Wohnzimmer und begebe mich in mein Zimmer. Als ich bei Ethans Tür vorbeikomme, höre ich seltsame Geräusche. Er ist wahrscheinlich mal wieder am gamen. Ich gehe weiter in mein Zimmer, hole mir die Socken und lasse mir auf dem Rückweg viel Zeit. Wieder höre ich das Geräusch. Ich glaube aber nicht, dass es aus seinem Monstergame stammt. Es klingt eher wie ein Nasenputzen. Leise klopfe ich an die Tür. Als ich keine Antwort erhalte, öffne ich sie einen Spalt.
Da, Ethan liegt verzweifelt auf dem Bett. "Ethan?", frage ich sanft. Er stellt sich schlafend, doch ich weiss, dass er wach ist. "Darf ich reinkommen? Ich weiss, dass du nicht schläfst.", meine ich leise. Keine Antwort. Langsam gehe ich auf sein Bett zu. Er bewegt sich immer noch nicht. Ich lasse mich neben ihm auf seinem Bett nieder. Er dreht seinen Kopf von mir weg. "Du solltest gehen." Er dreht seinen Kopf in die andere Richtung. Ich streiche langsam über seinen Rücken.
Nach einiger Zeit atmet er gleichmässig. "Schau mich an.", bitte ich ihn, beisse mir aber gleich auf die Lippen. Wer will mich schon anschauen, so ein hässliches Wesen? "Nein, tu es doch nicht", murmle ich.
Nun schaut er mich an. Ich seufze, toll gemacht. "Was ist los?" Erschrocken sehe ich ihn an. Seine Augen sind vom Weinen ganz rot. Sanft streiche ich mit einem Finger über seine Wange. "Du solltest mich nicht so sehen.", flüstert er leise. "Wieso nicht?", frage ich erstaunt zurück. Er seufzt nur und legt sich wieder hin. "Geh zu den anderen, ich möchte allein sein." "Okay", murmle ich ein bisschen enttäuscht. Aber ich verstehe ihn. Ich weine auch lieber alleine. Ich gebe ihm einen Kuss auf den Hinterkopf und streiche ihm nochmals über den Rücken. Dann stehe ich auf und gehe nach unten. Gerade als ich durch die Tür gehe meint er noch: "Erzähl niemandem was davon, verstanden?" Ich nicke und er nickt zurück. Als ich die Treppe runter gehe, höre ich, wie sich der Schlüssel in seiner Tür dreht. Er will nicht gestört werden.
Unten angekommen setzte ich mich wieder an meinen Platz. Es ist zu früh, um zu schlafen, aber niemand tut was. "Wir könnten Moms Zimmer ausräumen.", meint plötzlich Michael, der auch nicht gerne nutzlos rumsitzt. Nach einer kleinen Diskussion stimmen alle zu. Ich gehe meinen Brüdern hinterher in Moms Zimmer. Ich weiss nicht, ob ich schon bereit bin. Das letzte Mal, als ich hier war, hat sie ihre Augen für immer geschlossen.
Es sieht immer noch so aus, wie wir es verlassen hatten. Wir alle bleiben einen Moment stehen. Niemand rührt sich. Alle scheinen in den Erinnerungen zu schwelgen. Ich presse meine Lippen zusammen, um nicht zu weinen.
Da hat sie gelegen. Und nun ist ihr Bett leer.
Nach einiger Zeit verlässt Nick das Zimmer und kommt mit Kisten zurück. Er gibt einige Anweisungen, wer was einpacken soll. "...und Louisa kümmert sich um die Bücher.", höre ich ein paar Wörter. Okay, und was mach ich? Es dauert eine Weile, bis ich merke, dass ich mit Louisa gemeint bin. Ich merke, wie Nick ungeduldig wird, als ich die mir entgegengestreckte Kiste nicht nehme. Ich nehme all meinen Mut zusammen. "Mein Name ist Mirja.", Stille. "Das haben wir bereits geklärt, ich hab nun keine Nerven für dich Louisa. Sei einmal nicht egoistisch.", meint er schroff. Nun treten mir definitiv die Tränen in die Augen. Das kann nicht wahr sein. Ich wende mich ab und beginne brav die Bücher in die Kiste zu packen.
Wie ein Roboter packe ich Buch für Buch in die Kiste. Als ich zu den Fotoalben komme, merke ich, wie sich ein Kloss in meinem Hals bildet. In einem dieser Bücher steht drin, dass ich der grösste Fehler sei. Ich kann nicht weiterfahren. Nicht heute. Das weisse Buch ist das nächste. Dort steht es drin. Tränen treten mir in die Augen. Und da passiert es. Es rutscht mir aus den Händen. Mit einem dumpfen Knall schlägt es auf dem Boden auf. "Spinnst du?!", kommt bereits die entsetzte Reaktion meiner Brüder. "Das sind Erinnerungen mit Mom!" "Nicht mal so was kannst du!" ich will nur weg. An der Tür werde ich von Noah aufgefangen, er greift zögerlich nach meiner Hand.
Er zieht mich mit sich raus. Wortlos öffnet er die Tür und deutet mir an, mich auf die Treppe vor dem Haus zu setzten. Überrascht nehme ich wahr, wie er sich neben mir niederlässt. Ich habe erwartet, dass dies so eine Art Strafe ist. "Mirja... Louisa... eh, wie auch immer, hör zu, es tut mir Leid. Ich hätte nicht so zu dir sein dürfen. Es ist für uns alle eine schwere Zeit, deshalb haben auch alle vorhin so reagiert. Ich glaube aber auch, dass sie wegen mir so ausgerufen haben. Ich habe sie quasi auf die Idee gebracht, dass man unfreundlich und fies zu dir sein kann. Es tut mir leid. Wirklich." Er steht auf und geht auf den Eingang zu "Noah", flüstere ich. Er dreht sich um und schaut mich abwartend an. "Darf ich ein bisschen spazieren gehen? Bitte. Ich möchte alleine sein." "Dann geh in dein Zimmer", meint er gleichgültig und dreht sich wieder um. "Ich möchte aber raus.", versuche ich es nochmal, erinnere mich dann aber gleich an Alys Worte. "Okay, ich gehe in mein Zimmer", schiebe ich schnell hinterher. Er schaut mich verwirrt an, sagt aber nichts. "Kannst ja auch zu Ethan gehen. Vielleicht kommt er mit dir raus.", schlägt er vor. Das klingt, als ob ich ein Hund wäre...
Vor Ethans Tür bleibe ich stehen. Soll ich klopfen? Er hat vorher seine Tür abgeschlossen, wahrscheinlich möchte er kein Besuch. Aber er ist meine einzige Möglichkeit zum raus kommen. Aber...
Schlussendlich lande ich in meinem Zimmer, ohne geklopft zu haben...
"ESSEN", schreit jemand von unten.
Kaum sitzen alle am Tisch, meint Nick auch schon, er hätte eine wichtige Mitteilung zu machen: "Ich will, dass ihr sie ab jetzt Louisa nennt." Schweigen. Ich will das aber nicht. "Ehm, Nick, ist es möglich, dass ich doch weiterhin Mirja heisse?", frage ich angespannt. "Nein", lautet seine eindeutige Antwort. Ich kaue auf meiner Lippe rum. Jack neben mir merkt es und streicht sanft mit seinem Finger über meine Lippen und schüttelt dabei leicht seinen Kopf. Auch seine Aufforderung ist eindeutig. Ich werde nervös und beginne mit den Füssen auf dem Boden zu trommeln. Ich habe das Gefühl, dass ich einfach etwas tun muss, sonst weiss ich auch nicht was passieren wird.
"Hör jetzt auf mit dem Gezappel", meint Nick gereizt. "ich geh hoch.", kündige ich leise an und verschwinde, ohne etwas gegessen zu haben nach oben.
Dort hole ich meine Klinge und lenke mich von allem ab.
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Meine neue Familie
Teen FictionWarnung! In dieser Geschichte sind Ritzen und Magersucht eins der Hauptthemen! Begleitet Mirja auf ihrem Weg in ihre neue Familie. Als ich mit meiner Familie aus den Ferien zurück flog, kam plötzlich ein fremder, junger, gutaussehender Mann auf uns...