Kapitel 32

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Montag, 14.09.

Die Nacht war kurz gewesen. Matthias hatte die Nacht in Villes Laden verbracht, oder besser gesagt in dem winzigen Apartment, das darin untergebracht war. Im hinteren Teil des Studios war ein kleines Zimmer mit einer Küchenzeile und einem winzigen Bad, in das Ville ein Bett, einen Tisch und einen kleinen Schrank gestellt hatte. Matthias wusste, dass er diesen Raum für Notfälle eingerichtet hatte, denn nicht erst einmal hatte er sich so sehr mit seiner Schwester gestritten, dass er die Nacht woanders verbracht hatte. Doch nun war er froh, dass es dieses Zimmer gab. 

Wie fast jeden Morgen warf er als erstes einen Blick auf sein Handy. Er hatte nur eine einzige Nachricht. Esra hatte ihm geschrieben. Er musste die Nachricht zweimal lesen, bis er den Sinn begriff.

„Wir sollten über gestern reden. Es tut mir leid, dass ich dich einfach so vor die Tür gesetzt habe, aber es ging nicht anders. Erdal und ich haben geredet und er ist unserer Meinung. Er findet die Idee unserer Eltern genau so schwachsinnig wie wir. Wenn du heute nach der Arbeit Zeit hast, könnten wir uns alle zusammen irgendwo treffen und alles besprechen. Bitte sei nicht sauer. Hab dich lieb."

Er brauchte einige Momente bis er begriff, dass Villes Vermutung richtig zu sein schien. 

Er horchte einen Moment in sich hinein, um sich selbst nach Schmerz zu durchsuchen. Komischerweise war der Herzschmerz wegen Oskar nicht mehr ganz so stark. Es war deutlich einfacher, darüber hinwegzukommen, wenn der andere das alles als einen Ausrutscher bezeichnete. Es wäre viel schlimmer gewesen, hätte Oskar weiterhin zugegeben, dass er Gefühle für ihn hatte und ihn liebte aber nicht mit ihm zusammen sein könnte. Er konnte sich nichts Schlimmeres vorstellen, als zu wissen, dass Oskar ihn auch liebte aber aus irgendwelchen Gründen nicht mit ihm zusammen sein konnte. 

Er dachte an Oskars Berührungen und die Worte, die er ihm gesagt hatte. Es tat noch ziemlich weh, aber er glaubte nicht mehr, dass er zerbrechen musste. Er entschloss sich, die Sache mit Esra zu klären und in ein paar Tagen noch einmal zu versuchen, mit Oskar zu reden. Das mit seinem Vater würde sich schon irgendwie wieder einrenken. Er tippte eine Nachricht an Esra, dass er einverstanden war mit einem Treffen und fragte sie nach einer Uhrzeit und einem Ort, dann stand er auf und stellte sich unter die Dusche. 

Als er aus dem Bad kam, hörte er, wie Ville hereinkam. Sie hatten verabredet, sich kurz zu treffen. Ville sollte ihm berichten, was zu Hause noch passiert war. Sie gingen in den vorderen Raum des Studios, in dem der Empfangsbereich war. Dort stand ein schwarzes Ledersofa mit einem kleinen Tisch davor. Sie setzten sich auf das Sofa und Matthias starrte ihn neugierig an. Doch Ville schien besorgt zu sein. 

„Dein Dad hat sich noch nicht wirklich beruhigt. Er ist ziemlich wütend. Er hat die ganze Zeit vor sich hin geflucht. Vielleicht bleibst du erst einmal noch ein paar Tage hier. Soll ich versuchen, noch mal mit ihm zu reden?", berichtete er und sah ihn mitleidig an. Matthias zuckte die Schultern. 

„Ich weiß nicht, ob das was bringen würde. Er wird sich schon wieder einkriegen. Was sagt Lisa dazu?", wollte er wissen, doch dieses Mal zuckte Ville die Schultern. 

„Sie sagt nicht viel. Wahrscheinlich will sie sich raushalten. Aber ich glaube, dass sie etwas neutraler an die Sache herangeht, als Darren."

„Vielleicht warten wir einfach ein paar Tage ab. Ich treffe mich heute mit Esra. Sie will mir erklären, was gestern passiert ist", erklärte er Ville und dieser nickte. 

„Ich bin heute lange hier, also wenn du reden willst..."

„Weiß noch nicht", gestand Matthias. Er wusste nicht, ob es klug war, Ville zu sehr mit einzubinden. Natürlich war er ihm dankbar für alles, was er für ihn getan hatte, doch Ville konnte ziemlich unberechenbar sein. Seine lockere, meist freche Fassade war genau das, eine Fassade. Er hatte Probleme, mehr als er zugab. Dagegen war sein eigener Herzschmerz ein Witz. 

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