Kapitel 36

37 6 89
                                    

Freitag, 18.09.

Als Matthias am nächsten Morgen aus dem Haus trat, um zur Arbeit zu fahren, blickte er in ein Gesicht, das er am liebsten nicht gesehen hätte. Oskar stand an seinem Auto und wartete offensichtlich auf ihn. Kurz kam ihm der Gedanke, dass er einfach wieder rein gehen und warten könnte, bis Oskar verschwand. Doch das kam ihm irgendwie feige vor. 

Mit klopfendem Herzen ging er zu seinem Auto und blieb in einigen Abstand zu ihm stehen. Oskar sah ganz und gar nicht gut aus und am liebsten hätte er ihn in den Arm genommen und ihn getröstet. Doch er zwang sich, ihm nicht zu nahe zu kommen. Neben seiner Sehnsucht nach ihm mischte sich nun auch etwas ganz anderes. Er war wütend und enttäuscht. Oskar hatte nicht nur ihn angelogen, sondern auch Johnny. 

„Du stehst vor meiner Autotür", sagte er monoton, doch Oskar bewegte sich keinen Zentimeter zur Seite. 

„Können wir reden?", fragte Oskar stattdessen. Unweigerlich musste er an das letzte Mal denken, als Oskar mit ihm reden wollte. Sie waren wieder im Bett gelandet und es war eindeutig von Oskar ausgegangen. Das wollte er Johnny nicht antun. Er wusste, dass es ihn zerbrechen würde. 

Komischerweise war er noch immer verliebt in Oskar, aber es tat nicht mehr so weh, wenn er daran dachte, dass zwischen ihnen alles vorbei war. 

„Ich habe eigentlich keine Zeit", antwortete er ihm und verschränkte die Arme vor der Brust. Oskar seufzte, doch er machte noch immer keine Anstalten, sich von seiner Autotür wegzubewegen. Er starrte auf den Boden und schob mit dem Fuß ein kleines Stöckchen hin und her. 

Nach einigen Sekunden sah er Matthias direkt in die Augen. Sein Blick war schmerzerfüllt und Matthias glaubte, Verzweiflung darin erkennen zu können. Kurz wurde ihm sein Herz schwer, ihn so zu sehen. 

„Warum hast du Johnny die Wahrheit gesagt? Ich dachte, du wärst mein Freund."

Matthias musste kurz die Augen schließen. Endlich gab Oskar zu, dass es nicht nur ein Ausrutscher war. Dass es mehr war und sie beide Gefühle füreinander hatten. 

„Ich finde, dass er die Wahrheit verdient hat. Du würdest dein ganzes Leben lang mit einer Lüge leben und ihm jeden Tag ins Gesicht lügen. Ich könnte das nicht", antwortete er frei heraus und war selbst überrascht, wie philosophisch seine Worte klangen. Oskar zog die Augenbrauen zusammen und es bildeten sich Tränen in seinen Augen. Dann schnaubte er und fing an, gequält zu grinsen. 

„Und was würde eine Lüge mehr ändern? Mein ganzes Leben ist eine Lüge!", sagte er schmerzvoll und sämtliche Farbe wich ihm aus dem Gesicht. 

„Wie meinst du das?", wollte Matthias wissen, denn er hatte keine Ahnung, was er meinte. Oskars Blick wanderte in die Ferne. 

„Du denkst, dass du alles über mich weißt. Aber du weißt gar nichts. Ihr alle wisst gar nichts über mich! Ihr denkt, Wolfgang hätte Ville mehr Schaden zugefügt als mir? Nur weil ihr es bei ihm gesehen habt, heißt das nicht, dass ich verschont wurde. Nur weil er seinen angeblichen Schmerz mit Drogen betäubt hat und aus Wut Wolfgang umgebracht hat, heißt das nicht, dass er mehr gelitten hat als ich!", schrie er mit erstickter Stimme und Tränen rannen ihm über das Gesicht. 

Matthias stand vollkommen reglos da. Er hatte nicht damit gerechnet, dass Oskar anfing, über seine Kindheit zu reden. Er schluchzte und ließ sich auf den Boden sinken. Das Gesicht vergrub er ihn den Händen und zum ersten Mal schien er seine Ängste herauszulassen. 

Langsam sank Matthias auf die Knie zu ihm herunter und legte einen Arm auf seine Schulter. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Alles was ihm einfiel, schien irgendwie unpassend. 

Er dachte an den Tag zurück, als Wolfgang gestorben war. Ville hatte ihnen erzählt, dass Wolfgang wieder einmal betrunken war und ihn schlagen wollte. Sie haben gekämpft, wobei ein Stuhl zu Bruch gegangen war. Ville war im Drogenrausch und hatte sich das abgebrochene Stuhlbein gegriffen und solange auf seinen Vater eingeschlagen, bis er tot war. Oskar war damals dreizehn gewesen und hatte das alles mit ansehen müssen. 

Slice of Life - A New ExperienceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt