Kapitel 6

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Mittwoch, 19.08.

Der nächste Morgen kam plötzlich und unbarmherzig. Die Sonne strahlte in sein Gesicht, als sei alles in Ordnung. Doch nichts war in Ordnung. Ein Blick auf sein Handy verschlimmerte alles nur noch. Er hatte zwei neue Nachrichten. Und zwar von den beiden Personen, von denen er am wenigsten eine haben wollte. 

Die erste war von Esra. Sie verlangte, dass er heute zumindest zum Abendessen vorbei kam. Er konnte nicht absagen. Er nahm sich vor, das Beste daraus zu machen. Vielleicht könnten sie ja noch etwas Zeit zu zweit verbringen, wenn Duygu schlief. Die zweite Nachricht war von Oskar und löste weitaus mehr Gefühle in ihm aus, als ihm lieb war. Auch er wollte ihn sehen.

„Ich weiß, dass du anders empfindest, aber ich will Zeit mit dir verbringen. So wie früher. Weil du gestern nicht bei Esra warst, wirst du heute zu ihr gehen müssen, aber vielleicht kannst du morgen zu mir kommen?"

Auch das schien keine Bitte zu sein. Frustriert warf er sein Handy neben sich aufs Bett und stellte sich einen Wecker für in einer halben Stunde. Einschlafen konnte er jedoch nicht mehr.

Nach einem einsamen Frühstück um halb zwölf und einer anschließenden Dusche schaute er noch einmal auf sein Handy. Wieder eine Nachricht von Esra.

„Wenigstens Ja oder Nein könntest du schreiben."

Kurzentschlossen wählte er ihre Nummer. Normalerweise machte sie immer zwischen halb zwölf und zwölf Mittagspause. Bevor er sich überlegen konnte, was er sagen sollte, nahm sie das Gespräch an. 

„Du lebst also auch noch", begrüßte sie ihn, doch sie klang fröhlicher, als er erwartet hatte. 

„Gestern war nicht so mein Tag", redete er sich raus, doch sie schnalzte nur mit der Zunge. 

„Also kommst du heute Abend?"

„Denk schon. Wann kommst du nach Hause?"

„Um drei Uhr bin ich da, Duygu kommt um circa Viertel nach."

„Ist das okay, wenn ich dann auch schon vorbeikomme?"

Er hatte keine Ahnung, woher die plötzliche Sehnsucht nach ihr kam. 

„Klar!", sagte sie und klang dabei positiv überrascht, so als hätte sie das nicht erwartet.

„Dann bis nachher", beendete er das Gespräch, doch er konnte spüren, dass sie noch etwas sagen wollte. 

„Ist alles in Ordnung bei dir? Du wirkst so... abwesend", fragte sie nach. Eine Sekunde zögerte er. Genau eine Sekunde zu lang. 

„Alles gut", schwindelte er und es war offensichtlich, dass sie ihm die Lüge nicht abkaufte. 

„Dann bis nachher", sagte sie nach einem kurzen Zögern und legte auf. Er war wirklich ein miesepetriger Griesgram.

Um zehn vor drei setzte er sich auf die Stufe vor Esras Haustür. Sie wohnte in einer Maisonettewohnung in einem hübschen Zweiparteienhaus. Im Erdgeschoss wohnte ein älteres Ehepaar, die Eigentümer des Hauses. 

Wie schon so oft in den vergangenen Stunden tippte er eine Nachricht an Oskar, die er aber vor dem Abschicken wieder löschte. Er wusste einfach nicht, was er ihm schreiben sollte. Klar musste er auch oft daran denken, dass sie sich jetzt schon zweimal geküsst hatten. Obwohl beide Küsse eher ein Überfall auf den anderen waren. Aber er bekam kein Herzrasen oder Kribbeln im Bauch, wenn er daran dachte. Eigentlich hatte er gar kein Gefühl, wenn er daran dachte, wie es sich angefühlt hatte, von ihm geküsst zu werden. 

Wahrscheinlich brauchte sein Hirn erst noch ein paar Tage, bis es sich entschied, so etwas wie ein Gefühl dazu zu entwickeln. 

Ein Motorengeräusch ließ ihn aufblicken. Esra parkte ihr Auto in der Auffahrt, direkt neben seinem. Als sie ausstieg, warf sie ihm einen skeptischen Blick zu. 

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