Kapitel 20

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Mittwoch 02.09.

„Hey!", hörte Matthias jemanden neben sich sagen und spürte kurz darauf eine Hand an seinem Ellbogen. 

Er war gerade gedankenverloren aus dem Caritas-Gebäude gekommen und hatte nicht auf seine Umgebung geachtet. Erschrocken drehte er sich um und sah in Oskars rundes Gesicht. Er lächelte ihn an und er spürte, dass Oskar ihn küssen wollte. 

„Hey, was machst du denn hier?", fragte Matthias und lächelte ebenfalls. 

„Ich wollte dich überraschen", antwortete Oskar schulterzuckend und ging langsam los. 

„Das ist dir gelungen", lachte Matthias und hakte sich bei ihm unter. 

„Soll ich dich wieder zu deinem Auto bringen?", fragte er und dachte an das letzte Mal, als Oskar ihn nach der Arbeit überrascht hatte. Bei dem Gedanken an die Küsse in dieser abgelegenen Seitenstraße wurde ihm ganz heiß. 

„Ich bin mit der Bahn gekommen. Ich dachte, du nimmst mich nachher mit zurück."

„Nachher?"

„Ich dachte, wir könnten einen kleinen Spaziergang machen", schlug er vor und sah Matthias lange an. 

„Wieso eigentlich nicht? Du führst", sagte er mit einem Schulterzucken. Eine Weile gingen sie schweigend. 

„Wie war deine Nachtschicht?", fragte Matthias und sah seinen Freund an. Dieser stöhnte. 

„Ziemlich langweilig. Ich bin nur zu vier Einsätzen gefahren, die restliche Zeit habe ich auf der Dienststelle mit Warten verbracht. Ich habe in der Zeit viel nachgedacht."

Das konnte gut und schlecht sein. 

„Über was denn?", fragte er neugierig, doch Oskar schwieg. 

„Über... uns?", fragte er etwas verunsichert, während Oskar ihn zu einer Treppe zog, die zu einem kleinen Park führte. 

„Ich denke die meiste Zeit des Tages über uns nach", gab er zu und setzte sich. Matthias ließ sich neben ihm nieder. 

„Ach ja?"

„Ich denke immer, ich sollte Johnny sagen, dass es da jemand anderen gibt. Aber... ich kann es irgendwie nicht. Ich habe schon hundert Mal eine Nachricht geschrieben, sie aber dann wieder gelöscht. Ich muss immer daran denken, als ich ihn kennengelernt habe. Damals war ich noch mit Damian zusammen. Vielleicht... bin ich einfach nicht fähig, einem Menschen, den ich liebe, treu zu sein. Meinst du, es stimmt etwas nicht mit mir?"

Eine Weile dachte er über seine Worte nach. 

„Willst du meine Meinung hören?", fragte Matthias ihn schließlich, woraufhin Oskar nickte. 

„Du hast Damian damals betrogen, weil du unglücklich warst. Aber du hast es nicht übers Herz gebracht, ihm seines zu brechen. Und jetzt bist du Johnny fremdgegangen, weil du ihn vermisst und einsam bist. Wäre er die ganze Zeit über hier gewesen, hättest du niemals mit mir etwas angefangen", sagte er und schluckte einen Kloß herunter. 

„Du denkst, du wärst ein Lückenbüßer?", fragte Oskar ruhig und sah ihn dabei ernst an. Matthias wandte den Blick ab.

„Mein Herz hofft, dass es nicht so wäre, aber mein Verstand weiß, dass es so ist", antwortete er. Gespannt wartete er auf Oskars Reaktion. Insgeheim wollte er natürlich hören, dass er sich irrte. In den letzten zweieinhalb Wochen war zwischen ihnen so viel passiert, dass er es zumindest versuchen musste, in den restlichen fünfeinhalb Oskar von sich zu überzeugen. Was so gut wie unmöglich war. Wer war er denn schon im Vergleich zu Johnny?

Er spürte, dass Oskar nah an ihn heranrutschte. 

„Du solltest auf dein Herz hören", sagte er leise in sein Ohr und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Matthias konnte nicht anders, als zu lächeln. 

„Bist du dir sicher? Ich habe nur irgendwie Angst davor, dass du mich links liegen lässt, wenn Johnny wieder da ist", gab er zu, legte aber seine Hand auf Oskars Knie. In einer fließenden Bewegung kniete Oskar sich vor ihm auf die Stufen und umfasste sein Gesicht. 

„Lass uns was beschließen, okay? Bis er wieder kommt, versuchen wir, nicht an ihn zu denken. Wir denken nur an... uns. Du hast mir irgendwie den Kopf verdreht, und anscheinend fühlst du genauso. Also, wieso sollten wir das nicht akzeptieren und einfach das tun, was wir wollen?", sagte er eindringlich, und wartete, dass Matthias reagierte. Er sah ihm in die Augen und nickte. 

„Ich versuche es."

Noch eine intensive Sekunde lang sahen sie sich in die Augen, dann küssten sie sich, mitten auf der Straße, umgeben von Menschen. Und es fühlte sich gut an.

Am Abend lag Matthias in Oskars Bett und roch an seinem Kissen. Gierig sog er seinen Duft ein. Er fühlte sich wie berauscht. Er hatte recht. Sie sollten einfach ihre gemeinsame Zeit genießen und versuchen, alle zukünftigen Wenns auszuklammern. Immerhin lebten sie ja im Jetzt. Noch vier Nächte würde er allein sein, dann könnte er wieder an Oskar gekuschelt einschlafen. Und mit ihm.

Verzweifelt versuchte er einzuschlafen, doch er war viel zu aufgekratzt. Er nahm sein Handy vom Nachttisch und schrieb eine Nachricht an Oskar. 

„Ich kann nicht einschlafen. Muss immer an dich denken", tippte und er drückte auf Senden. Fast augenblicklich kam eine Nachricht. Oskar war also im Moment nicht bei einem Einsatz. 

„Nicht mehr lange und ich bin wieder bei dir."

„Kann's kaum erwarten."

„Ich auch nicht. Aber du musst jetzt schlafen. Soll ich dich morgen wieder abholen? Viertel vor vier?"

„Wie du willst. Ich würde mich freuen, wenn du kommst."

Er legte sein Handy wieder auf den Nachttisch und bemerkte dabei den schlichten Goldring, der seit einigen Tagen dort lag. Vorsichtig fuhr er mit dem Finger darüber. Es fühlte sich merkwürdig an. Wie viel Bedeutung so ein einfaches Schmuckstück doch haben konnte.

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