Kapitel 22

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Freitag, 04.09.

Am nächsten Nachmittag lief Matthias schnellen Schrittes ins Krankenhaus. Natürlich war er zu spät, doch er konnte es nicht mehr ändern. 

Bis es nicht mehr ging hatte er auf Louisa gewartet, um mit ihr zu reden, doch sie war nicht aufgetaucht. 

Im Gehen tippte er noch eine Nachricht an Oskar, dass er nach dem Termin zu ihm kommen würde. Dass Ville über sie Bescheid wusste, wollte er erst einmal für sich behalten. Er hatte die Befürchtung, dass Oskar sich dann von ihm zurückziehen würde. Und das wollte er auf gar keinen Fall.

Obwohl es heute kälter war als die letzten Tage, schwitzte er. Er betrat das Krankenhaus und fragte am Empfang nach seiner Tochter. Die Empfangsdame verwies ihn in einen Wartebereich. Als er dort ankam, sah er Esra und Duygu dort sitzen. Esra hielt ihre Hand und redete ihr zu. Duygu sah ganz und gar nicht zufrieden aus. 

„Hey", sagte er abgehetzt und setzte sich auf Duygus andere Seite auf einen Metallstuhl. Esra warf ihm einen vernichtenden Blick zu. 

„Was hab ich verpasst?", fragte er, doch Esra schüttelte den Kopf. 

„Nichts. Wir warten noch."

Duygu wandte sich ihm zu und lehnte sich an seinen Arm. 

„Du bist zu spät", sagte Esra vorwurfsvoll und schien ihn mit ihren Blicken zu durchbohren. Am anderen Ende des Raumes saß eine junge Frau, etwa in ihrem Alter. Matthias spürte, dass sie sie beobachtete. 

„Denkst du, das weiß ich nicht?", antwortete er ihr ziemlich unfreundlich. Verächtlich schnaubte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. 

„Ihr seid so doof!", meldete Duygu sich zu Wort und Esra lachte. Auch er grinste, doch er wollte am liebsten wieder verschwinden. 

„Wenn ihr euch so sehr hasst, wieso habt ihr dann mich gemacht?", fragte sie weiter und in ihrer kindlichen Stimme schwang so etwas wie Entrüstung mit. 

„Unfälle passieren", hörte er sich sagen und blickte dabei Esra direkt in die Augen. Noch während er es aussprach wollte er sich ohrfeigen. Doch das übernahm Esra. Sie klatschte ihm eine, wie ihn noch niemand geschlagen hatte. 

„Schatz, Mama und Papa müssen mal kurz was besprechen!", sagte sie bestimmt, packte ihn am Arm und zog ihn aus dem Wartebereich weg, einige Meter den Flur entlang. 

„Bist du bescheuert? Das kannst du doch nicht sagen, wenn sie dabei ist!", schrie sie ihn an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Natürlich hatte sie recht. Er hatte mal wieder nicht nachgedacht. 

„Wie konnte ich nur mal was mit dir haben? Du bist der schrecklichste Mensch auf der Welt! Und gestern habe ich wirklich kurz gedacht...", brach sie ab und biss sich auf die Zunge. 

„Was hast du gedacht? Dass wir wieder zusammenkommen?", fragte er sie und dachte daran, wie sie gestern seine Hand gehalten hatte. Sie schnaubte nur, doch das war Antwort genug. 

„Vergiss es!", fauchte er sie an, drehte sich dann um und verschwand. 

„Dann hau doch ab du Arschloch!", schrie sie ihm nach, doch er zeigte ihr nur den Mittelfinger.

Als er im Auto saß, fühlte er sich so befreit wie schon lange nicht mehr. Duygu war schlau. Sie wusste, wie Kinder entstanden und sie wusste auch, dass sie nicht geplant war. Was nicht hieß, dass sie nicht geliebt wurde. Auch das wusste sie.

Matthias kurbelte das Fenster herunter und fuhr los. Er war wütend. Auf Esra, die heute Abend schon wieder in seinem Zimmer schlief. Und auf seinen Vater, der sie nur zu gerne bei sich aufgenommen hatte. 

Seine Wange brannte. Esra hatte ganz schön fest zugeschlagen. 

Er beschloss, sein Auto am Ortseingang abzustellen und zum See zu gehen. Er marschierte wütend den Weg entlang, bis er sich an der grünen Bank wieder fand. Er ließ sich darauf nieder und umschlang seine Knie. Er konnte an nichts anderes denken als an Esra, wie sie ihm eine geknallt hatte. Ohne Frage hatte er es verdient, aber es machte ihn wütend, wie er lange schon nicht mehr gewesen war. Er wünschte, er hätte es nicht noch einmal mit ihr versucht. Er hätte es einfach ablehnen sollen, als sie sich an ihn geklammert hatte, als sie von Max betrogen worden war. Es war doch alles in Ordnung gewesen. Zwar hatte er die beiden eher unregelmäßig besucht, aber es war zwischen Esra und ihm alles in Ordnung gewesen. Wieso hatte er das alles verändern müssen? Ihm schien alles über den Kopf zu wachsen.

Er wusste nicht, wie lange er schon da saß, doch es musste ziemlich lange gewesen sein. Seine Glieder waren ganz steif, als er seine Beine ausstreckte. Er zog sein Handy aus der Hosentasche, um auf die Uhr zu sehen, doch er wurde gerade angerufen. Einen Augenblick dauerte es, bis er bemerkte, dass er nach der Arbeit den Ton seines Handys vergessen hatte einzuschalten. Schnell nahm er das Gespräch an. 

„Ja?", fragte er leise und merkte zu spät, wie seine Stimme brach. 

„Wo bist du?", hörte er Oskars vorwurfsvolle Stimme. Er hatte vergessen, ihm Bescheid zu sagen. 

„Am See", sagte er leise. Er hörte, wie Oskar ausatmete. 

„Willst du reden?", erkundigte Oskar sich nach ein paar Sekunden der Stille. Er seufzte. 

„Esra und ich haben gestritten", begann er, doch Oskar lachte. 

„Das habe ich schon mitbekommen. Du hättest sie sehen sollen, als sie nach Hause gekommen ist..."

„Bei mir ist nicht ihr zu Hause!", giftete er ihn an, woraufhin er augenblicklich verstummte. 

„Okay", erwiderte Oskar nur, doch er schien verdutzt, dass er so harsch unterbrochen worden war. 

„Ich habe gehört, wie sie sich mit deinem Vater im Garten unterhalten hat. Sie hat dich geschlagen."

Er sagte nichts, doch seine Wange schien erneut aufzuflammen. 

„Und... als du nicht aufgetaucht bist, habe ich mir Sorgen gemacht", schloss er mit ruhiger Stimme, dann wartete er, dass Matthias etwas sagte. Er atmete tief durch. Allmählich beruhigte er sich wieder. 

„Ich wollte sie nur nicht noch einmal sehen. Ich... hätte zu dir kommen sollen. Aber..."

„Du wolltest allein sein?", fragte Oskar nach. 

„Vielleicht."

„Ich bin für dich da. Auch wenn du nicht drüber reden willst", hörte er Oskar sagen und auf einmal packte ihn eine Sehnsucht nach ihm, die er bisher nicht gekannt hatte. 

„Ich muss jetzt los zu Arbeit, aber ich würde mich freuen, wenn du morgen früh da bist, wenn ich komme", sagte Oskar leise, doch Matthias Stimmung hellte sich ein wenig auf. Er versuchte, sich wieder auf das Positive in seinem Leben zu konzentrieren. Trübsal blasen konnte er zwar ziemlich gut, doch er verschwendete damit nur die wenige Zeit, die er noch mit Oskar verbringen konnte. 

„Okay", sagte er schließlich, dann legte er auf.

Er wartete noch eine Stunde, bis er zu seinem Auto ging. Doch bevor er zu Oskar fuhr, holte er sich an der nächsten Imbissbude etwas zu essen. 

Satt und voller Vorfreude auf seinen Freund legte er sich in Oskars Bett. Er schmiegte sich an sein Kissen und stellte sich vor, er wäre hier. Er schob all den Stress mit Esra beiseite und spürte, dass er sich besser fühlte, je weiter er sich davon distanzierte. Morgen würde er ausschlafen und zumindest ein wenig mit Oskar kuscheln können. Er würde ihn beim Einschlafen beobachten und sich an ihn geschmiegt noch etwas ausruhen können. Bei dem Gedanken daran spürte er, wie sich etwas in ihm veränderte. Er fühlte nicht mehr nur Verlangen nach Oskars Anwesenheit, seinen Küssen, sondern er spürte Verlangen nach seinem Körper. Während er versuchte einzuschlafen, nahm er sich vor, Oskar morgen früh zu überraschen. 

Noch einmal schlug er die Augen auf und griff nach seinem Handy. Die Nachricht von Esra ignorierend stellte er sich den Wecker auf sieben Uhr morgens. Da endete Oskars Schicht und er hatte genug Zeit, alles vorzubereiten. Voller Vorfreude schlief er ein. 

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