Kapitel 29

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Freitag, 11.09.

Noch nie war Matthias so unmotiviert, zur Arbeit zu fahren. Es war eine Qual, aus dem Bett zu steigen, sich unter die Dusche zu stellen und sich ins Auto zu setzen. Zum Glück war heute Freitag und er konnte die nächsten zwei Tage entspannen. 

Er setzte sich ins Auto und warf instinktiv einen Blick zu Oskars Haus hinüber. Schlagartig fiel ihm wieder ein, was Ville für Sonntag geplant hatte. Noch schlechter konnte seine Laune kaum werden. Er warf noch ein Blick auf sein Handy, doch auch das neue Urlaubsfoto von Duygu konnte ihn nicht aufmuntern.

„Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?", fragte Diana, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. Er winkte nur ab, denn er hatte absolut keine Lust, mit irgendjemandem zu sprechen. Sie stieß einen wissenden Laut aus, doch sie nervte ihn nicht. Gut für sie, denn heute hätte sie sich ziemlich sicher eine pampige Antwort eingehandelt. 

„Guten Morgen Matthias!", begrüßte Franziska ihn mit kräftiger Stimme, knallte ihm eine Postkiste, die so voll war wie noch nie, vor die Nase und stöckelte wieder in ihr Büro zurück. Laut stöhnend ließ er den Kopf auf den Rand der Kiste sinken und einige Augenblicke verharrte er in dieser Position, bis sich die Kante unangenehm in seine Stirn drückte.

Irgendwie war die Zeit vergangen. Doch anstatt nach Hause zu fahren, hielt er an der Tankstelle. Er kaufte sich seit langem wieder Zigaretten. Sein Auto stellte er am Ortseingang ab, dann ging er zu Fuß zum Ufer des Sees und setzte sich auf die grüne Bank. Dieses Mal ohne unerwünschte Besucher. 

Er zündete sich eine Zigarette an und inhalierte gierig den Rauch, doch er musste husten. Es waren bestimmt drei Jahre seit seiner letzten Zigarette vergangen, doch er hatte einfach wieder Lust darauf gehabt. Eine ganze Weile saß er einfach nur da und rauchte, doch dann wurde ihm langsam kalt. Der Sommer schien endgültig vorbei zu sein. Fröstelnd rieb er sich die Arme, doch ihm wurde einfach nicht wärmer. 

Kurzentschlossen machte er sich auf den Heimweg, doch als er in sein Auto stieg bemerkte er zwei Gestalten im Augenwinkel. Er blickte in den Rückspiegel und erkannte Johnny und Oskar, wie sie den Weg entlang schlenderten. Oskar hatte den Arm und Johnnys Hüfte gelegt und zog ihn so ziemlich nah an sich heran. 

Matthias spürte, dass er eifersüchtig auf Johnny war. Mal wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen, doch er blinzelte sie weg. Doch neben der Eifersucht spürte er auch eine tiefe Sehnsucht nach Oskar. Bei dem Gedanken an die Berührungen von ihm, wurde ihm augenblicklich heiß. 

Doch Sheila und Ville hatten recht. Er sollte ihn vergessen und versuchen, nach vorne zu blicken. Aber im Moment konnte er nicht anders, als den beiden mit dem Blick zu folgen. Sie setzten sich tatsächlich auf eine Bank und fingen an, zu knutschen. Der Schmerz war fast unerträglich, aber er konnte den Blick nicht abwenden. Nach einer Weile hörten die beiden auf und redeten nur noch. Oskar lächelte die ganze Zeit, als ob er nur auf Johnny gewartet hätte. 

Nach einer gefühlten Ewigkeit riss Matthias sich los und fuhr wie in Trance das kurze Stück nach Hause. Er kam gleichzeitig mit Ville an, der sein Fahrrad in den Schuppen im Garten stellte und sich dann auf die Terrasse setzen würde, um zu rauchen. Das machte er schon seit Jahren so. Matthias folgte ihm und setzte sich neben ihn. 

„Hey", sagte er fröhlich, doch Matthias erwiderte nichts. Er zündete sich ebenfalls eine Zigarette an, senkte den Blick auf den Boden und versuchte, sämtliche Gefühle und Gedanken zu verdrängen. Obwohl sich ab und zu das Bild von Johnny und Oskar auf der Bank in sein Hirn schlich, gelang es ihm ziemlich gut. 

„Du hast mit Snickers geredet", hörte er Ville nach einer Weile neben sich sagen, doch er reagierte nicht auf ihn. Einfach nur hier zu sitzen und nichts zu tun war doch eine recht gute Beschäftigung, wenn die andere Möglichkeit darin bestand, in Herzschmerz zu versinken. 

„Kommst du mit rein, was essen?", fragte Ville irgendwann später. Plötzlich bemerkte er, wie hungrig er war. Allmählich erwachte er aus seiner Versenkung und ging Ville hinterher ins Wohnzimmer und setzte sich am Esstisch auf seinen Platz. Sheila saß auch schon dort, doch Lisa fehlte. 

Sein Vater kam mit einer riesigen Auflaufform aus der Küche, stellte sie auf den Tisch und setzte sich. Ville nahm sich als Erster. 

„Wo ist Lisa?", fragte Sheila, Ville ignorierend, der ihr den Löffel für den Auflauf in die Hand drücken wollte. 

„Sie kommt heute nicht", sagte ihr Vater knapp und nahm an ihrer Statt den Löffel und häufte sich Auflauf auf den Teller. 

„Warum nicht?", fragte sie nach und konnte die Panik in ihrer Stimme nicht verbergen. Kein Wunder, dass sie panisch wurde, denn zwei Leute mit gebrochenem Herzen in einem Haushalt waren eindeutig zu viel. 

„Sie hatte viel Stress auf der Arbeit diese Woche und wollte sich heute mit einer Freundin treffen. Sie kommt morgen früh", erklärte Darren und reichte den Löffel an Matthias weiter. Sheila schien erleichtert zu sein. Sie mochte Lisa und war froh, dass sein Vater mit ihr zusammen war. Obwohl sie es nicht zugab, wusste er, dass sie insgeheim ihre Mutter vermisste.

Nach dem Essen verzog Matthias sich in sein Zimmer. Sheila und Ville waren in ihr Zimmer gegangen und ab und zu hörte man sie reden oder lachen. Matthias legte sich auf sein Bett und schaute auf sein Handy. Schon wieder eine Nachricht von Oskar. Er las sie nicht, denn sein Herz hatte schon wieder angefangen zu bluten. Es war wie eine Wunde, die immer wieder aufriss. Er schaltete den Fernseher ein und ließ sich ein wenig berieseln, ohne irgendetwas vom Inhalt der Sendung mitzubekommen.

Als er wieder aufwachte, war es draußen dunkel. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass er eingeschlafen war. Noch immer trug er seine Jeans und T-Shirt. Vollkommen verschlafen zog er sich bis auf die Unterhose aus, legte sich wieder hin und versuchte, einfach weiter zu schlafen. 

Doch es funktionierte natürlich nicht. Er schaltete den Fernseher aus, griff nach seinem Handy und surfte eine Weile durch die sozialen Medien. Irgendwann schmerzten seine Augen so sehr von dem unnatürlichen Licht, dass er sie schließen mussten. Nach einigen Sekunden öffnete er sie wieder doch bald schon fingen sie an zu tränen. Ob es wirklich nur das Leuchten des Handys war, konnte er später nicht mehr sagen. 

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