44 - Die Auslöschung ihrer Realität

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Von grellem, blauen Licht geblendet, findet Luana sich schließlich in einer neuen Umgebung wieder. Dunkler makelloser Boden, ein Raum, der in die Unendlichkeit zu reichen scheint. Und im Mittelpunkt thront ein riesiger Baum, dessen Äste dem Eindruck von Datensträngen ähnlich in die höhe sprießen. Das blaue Licht, welches die gesamte Atmosphäre prägt, geht ebenfalls davon aus.

Es besteht kein Zweifel, dass dieser Ort bloß in Luanas Kopf existieren kann. Unerwartet jedoch, ist der Anblick des sechsten Harbingers am Fuße des großen Baumes.

Der Knoten in ihrer Brust zieht sich schmerzhaft zusammen, als Luana sich ihm nähert. Eine Hand über dem Gesicht starrt er vor sich auf den Boden. Er scheint sie nicht zu bemerken. Nicht einmal dann, als sie direkt neben ihn tritt.

,,Dottore...," entweicht es seinen Lippen verzweifelt, gefolgt von einem wahnsinnigen Lachen, ,,Dottore..."

Luana war also nicht die einzige, welche die Erinnerung des Doktors durchlebt hatte.

,,Master?"

Ihn weiterhin auf diese Weise anzusprechen, erscheint ihr eigentlich nicht sonderlich angemessen. Es mag eine Macht der Gewohnheit sein. Genaugenommen sind die Namen, welche er als Fatui Harbinger annahm allerdings ebenso hinfällig.

Der Dunkelhaarige lässt seine Hand langsam sinken. Noch immer ziert ein breites Grinsen seine Lippen. Seine Augen hingegen sind mit Tränen gefüllt.

Eine Welle der Traurigkeit überkommt Luana und schwemmt alle Fragen, die zuvor auf ihrer Zunge lagen mit einem Mal davon. Ihr Kopf ist vollkommen leer, als sie kurzerhand die Distanz zwischen ihnen überwindet und ihre Arme um seinen Oberkörper schlingt. Sie kann spüren, wie der Harbinger sich aufgrund ihrer plötzlichen Handlung anspannt. Dennoch erwidert er die Umarmung nach kurzem Zögern.

Fester als erwartet drückt Scaramouche seine Assistentin nun an seine Brust heran. Ungeachtet beider segelt der Hut des Dunkelhaarigen von seinem Kopf und landet lautlos neben ihnen auf dem Boden, während sich sein Gesicht in ihrer Halsbeuge vergräbt.

Die Art, wie er sich an ihr festklammert... als wären Luanas Arme derzeit das einzige, was ihn vor dem Ertrinken in seinem eigenen Leid schützen kann. Sie spürt wie seine Tränen den Stoff an ihrer Schulter langsam durchnässen.

So viele aufgestaute Gefühle. So viel Schmerz.

Im Inneren war er noch ein Kind, als ihm all diese grausamen Dinge widerfuhren. Ein Trauma, welches er nie hatte aufarbeiten können.

Eine unschuldige Seele bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt, bloß aufgrund der Taten eines einzigen Mannes.

,,Mein Freund hat mich nie hintergangen," schnaubt der Harbinger schließlich mit erstaunlich ruhiger Stimme nahe ihres Ohres, ,,Jahrhunderte lang habe ich an eine verdammte Lüge des Doktors geglaubt. Die gesamte Zeit über... war ich lediglich Teil seines elenden Experiments."

Tränen der Wut und der Trauer lassen sich nun kaum mehr voneinander zu unterscheiden.

,,Ich weiß...," murmelt Luana leise und bewegt ihre Hand sachte seinen Rücken auf und ab. Gerne würde sie ihm mehr sagen, versuchen ihm ein wenig Trost zu spenden. Doch angesichts dieser schrecklichen Umstände würden sicherlich keine Worte genügen, um irgendetwas daran zu verbessern.

So absurd diese Situation auch sein mag... Luana ist erleichtert darüber, dass sie in diesem Augenblick bei ihm sein kann.

Sie dachte immer es würde ihr helfen, wenn es ihr endlich gelänge sich für den Mord an Mai zu rächen. Doch als Resultat dessen, was ihm nun widerfuhr, war ihr Hass vollständig verschwunden. Was sie für ihn empfindet, ist aufrichtig.

To Be Hated By HerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt