Mavis {4 Jahre früher}
Ich konnte spüren, wie mein ganzer Körper vor Anspannung bebte, während ich unruhig in meinem Zimmer auf und ab ging. Dabei knarrten die dunklen Holzdielen hörbar unter meinen eisig kalten Füßen. Mein Blick war starr aus dem Fenster gerichtet, als ich in diese Richtung des Raumes lief. An der Scheibe sammelten sich dicke Regentropfen, die nach und nach ihre Bahnen zogen. Dahinter die Wellen, die ich trotz der Dunkelheit mit einer gewaltigen Kraft an den Klippen brechen sehen konnte. Ein Ausblick, den melancholisch veranlagte Menschen lieben würden. Für mich war es die Sicht aus einem Ort des Grauens. Aus der Hölle auf Erden. Zu oft hatte ich schon darüber phantasiert, mich von ihnen hinunter in den Tod zu stürzen.
Als ich das Fenster erreichte und den leicht kalten Windzug spürte, der durch den undichten Rand des Fensterrahmens drang, drehte ich mich erneut um und lief zurück. Dabei wurde meine Aufmerksamkeit jedes Mal aufs Neue von der großen Uhr über meiner Zimmertür auf sich gezogen. Es war halb drei Uhr mitten in der Nacht. Bereits 2,5 Stunden waren vergangen, seit meine kleine Schwester Phoebe geholt wurde. Die schlimmsten 2,5 Stunden meines Lebens. Und das, obwohl ich genau an der gleichen Stelle war, als ich 14 Jahre alt wurde. Der Gedanke daran, was er gerade mit ihr machte, war schlimmer als die Tatsache, es selbst erlebt zu haben.
Genau in dem Augenblick, in dem ich die andere Seite des Raumes erreichte, hörte ich ein Geräusch auf dem Flur. Mein Herz begann wie wild zu rasen und mit schnellen Schritten stürmte ich auf die Tür zu und lehnte vorsichtig meinen Kopf gegen das Holz, um nach weiteren Geräuschen zu lauschen. Als ich jedoch nichts außer meinem eigenen schweren Atem vernehmen konnte, griff ich nach der angelaufenen Türklinke und öffnete sie einen winzigen Spalt breit, um durch ihn hindurch, in den langen und nur durch das flackernde Kerzenlicht spärlich beleuchteten Flur zu spähen.
Nachdem ich für einen Moment so verharrt hatte, stellte ich fest, dass draußen niemand anderes war. Also öffnete ich die Tür ein Stück weiter. Eine gewaltige Gänsehaut überzog innerhalb von wenigen Sekunden jeden einzelnen Millimeter meines Körpers, als ich aus meinem Zimmer hinaus auf den Flur trat. Mein Blick fiel direkt auf eine der Türen am anderen Ende des langen Flures. Auf eine ganz bestimmte Tür, durch die ich bereits unzählige Male selbst hindurch gegangen war und deshalb wusste, was dahinter für schlimme Dinge passierten. Alleine ein kurzer Blick auf diese von außen verschnörkelte Holztür reichte aus, um die Bilder der gemachten Erfahrungen in mein Gedächtnis zurück zu rufen. Wie ein Film liefen sie vor meinem inneren Auge ab und ließen mich jedes Mal aufs neue das fühlen, was ich fühlte, wenn ich durch sie hindurch ging. Bilder, von denen ich vermutete, dass ich sie nie wieder für den Rest meines Lebens vergessen würde.
Sofort wurde ich aus meinen Erinnerungen gerissen und ins hier und jetzt zurück geholt als ich sah, wie sie sich langsam öffnete. Nicht komplett, sondern nur so weit, dass Phoebe durch sie hindurch gehen konnte. Kurz danach wurde sie hinter ihr ins Schloss gezogen. Mein Atem stockte und drohte für einen Moment auszubleiben als ich sie sah, während ich mich ihr mit zuerst langsamen und dann immer schneller werdenden Schritten näherte.
Ihr regungsloser Körper war nur mit einem rosafarbenen Negligé aus Seide bekleidet. Ein Kleidungsstück, dass nichts an dem Körper eines Mädchens in diesem Alter zu suchen hatte. Ich war noch nicht einmal auf der Hälfte des Flures angekommen, als ich schon die rötliche Verfärbung des Stoffes auf der Höhe ihres Intimbereiches sehen konnte. Und dann auch, wie ihr das Blut langsam über die Haut an ihrem Oberschenkel rann und drohte, auf den Boden unter ihren Füßen zu tropfen.
Der Ausdruck der in ihren blauen Augen lag, war leer. So leer, dass ich befürchtete, dass nicht mehr viel von der Phoebe übrig war, die sie noch vor 2,5 Stunden war. Als ich allerdings bei ihr angekommen war und vorsichtig nach ihrer Hand griff, traf ihr Blick meinen. Ihre Augen waren glasig. Sanft strich ich mit meinem Finger auffordernd über die Haut an ihrer Hand, woraufhin sie meine fester umgriff. Erleichtert atmete ich aus. Sie existierte noch..
Ich machte einen letzten Schritt auf sie zu und zog sie in eine feste Umarmung. Nicht zu fest, denn ich wollte ihr nicht weh tun. Aber dennoch so fest, dass sie nicht eine Sekunde daran zweifeln konnte, dass ich gerade bei ihr war. Als sie meine Umarmung nach einem kurzen Zögern mit der gleichen Intensität erwiderte, vergrub sie ihr Gesicht an meiner Schulter, während sie leicht zu schluchzen begann.
„Shhh, noch nicht weinen. Nicht hier", flüsterte ich und legte daraufhin meine Arme schützend um ihre Schultern, während ich sie neben mir her, durch den Flur führte. Es wurde nicht gerne gesehen, wenn man seine Gefühle außerhalb seines Zimmers nicht unter Kontrolle hatte. Denn Kontrolle war das einzige worum es dabei ging. Sie wollten die alleinige Kontrolle über uns haben. Wir weinten, wenn sie es wollten..
Als wir zurück in meinem Zimmer angekommen waren, schloss ich leise die Tür hinter uns. Dann räumte ich zügig ein paar Bücher von einem Holzstuhl runter, der etwas abseits stand und stemmte die Lehne unter die Türklinge. Eine andere Möglichkeit für Privatsphäre gab es hier nicht. Dennoch wusste ich, dass jeder der reinkommen wollte, trotz des Stuhls auch reinkommen würde.
Phoebe vergrub das Gesicht in ihren Handflächen, nachdem ich sie auf mein Bett gesetzt hatte. Die Tatsachen, dass ihr Blut auf die Decke und das Laken kommen würde, war mir allerdings egal. Ich wollte, dass sie wusste, dass sie hier bei mir, in diesem Moment, in Sicherheit war und ich die Situation mit ihr überstehen würde. Jetzt wo wir alleine waren, durfte sie weinen. Und das tat sie. Sie weinte so sehr und so bitterlich, dass ich zwischenzeitlich Angst hatte, dass sie keine Luft mehr bekam. Also nahm ich sie erneut in den Arm und zog sie zu mir, um sie wie ein Baby in meinen Armen zu wiegen. Dabei summte ich leise eine kleine, beruhigende Melodie. Dies tat ich so lange, bis nach einer Weile die ersten goldenen und selten gesehenen Sonnenstrahlen über den Rändern der dunklen Klippen auftauchten.
„Darf ich sie sehen?", fragte ich leise und strich ihr mit der Hand sanft über das Haar, dass ihr ins Gesicht gefallen war. Mittlerweile hatte sie aufgehört zu weinen und ich konnte sehen, dass ihre Augenlider schwerer wurden. Dennoch schlief sie nicht. Jedes Mal, wenn sie zu fielen und sie drohte einzuschlafen, riss sie sie erschrocken wieder auf.
Für einen kurzen Moment zeigte Phoebe keinerlei Reaktion auf meine Frage. Dann nickte sie allerdings doch leicht mit dem Kopf. Langsam löste ich meine Hand von ihrem Haar und griff ganz vorsichtig nach dem mittlerweile dunkelroten und halb angetrockneten Stoff des Negligé, um ihn anzuheben. Er klebte teilweise bereits an einigen Stellen ihrer Haut.
Mir drehte sich beinahe der Magen um, als ich einen ersten Blick auf die Haut an ihrer Leiste gerichtet hatte. Auf ihre Gravur. 'Chattel'. Das war ihre Bezeichnung. Ihr Name. Und so würde sie ab heute von dem Mann genannt werde, der ihr diesen gegeben und ihn für immer mit einem Messer auf ihrer Haut verewigt hatte. Die Tatsache trieb mir Tränen in die Augen. Vor Wut, Trauer und Verzweiflung. Aber ich ließ nicht zu, dass sie mich überkamen. Ich musste stark sein. Für meine kleine Schwester.
Phoebe und ich teilten seit unserer Geburt das gleiche grausame Schicksal miteinander. Mit zwei Jahren Altersunterschied wurden wir in eine Familie geboren, die Teil eines Täternetzwerkes für organisierte sexuelle Gewalt war. Damit waren wir nicht die Einzigen. Es gab unzählige Großfamilien in Gravecliff, wo Mädchen das gleiche Schicksal hatten. Jungs wurden zu Tätern gemacht und Mädchen zu Opfern. Die Vorgehensweise war überall die gleiche: Wohlhabende und einflussreiche Männer, häufig Politiker oder Firmengründer, hatten die Möglichkeit, die sexuelle Integrität eines Mädchens zu erwerben. Dafür gab es eine anonyme Auktion, bei der der Höchstbietende die Ware bekam.
In der Nacht ihres 14. Geburtstags gab es die 'Übergabe'. Dies war der Zeitpunkt, bei dem der erste Missbrauch, sowie die Gravierung stattfand. Dabei bekam jedes Mädchen ein Wort mit einer ähnlichen Bedeutung wie 'Eigentum' oder 'Besitz' in die Haut ihrer Leiste geschnitten. Ein Wort, das die Rolle beschrieb, die sie von da an hatte. Die Buchstaben vernarbten im Laufe der Zeit und würden sie somit für den Rest ihres Lebens als Hab und Gut jenes Mannes kennzeichnen, der ihr den Namen gegeben und in die Haut geritzt hatte.
Die Chance als Opfer lebend aus solch einem Netzwerk herauszukommen, war zwar gering aber nicht unmöglich. Es gab vereinzelt Mädchen, die es geschafft hatten, dem missbrauchenden System zu entfliehen und ein Leben jenseits des Erlebten zu führen. Das war es, was auch ich wollte. Für Phoebe. Sie war kleiner als ich und würde daran zugrunde gehen, weshalb ich sie in Sicherheit bringen musste. Weg von all den Schmerzen, die sie letzte Nacht erfahren hatte und noch in vielen weiteren Nächten erfahren würde...
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Next to Coke and Joy Division
Teen Fiction{2. Teil der Preposition-Trilogie} Mavis und Phoebe Prescott - zwei Schwestern, die aufgrund ihrer tragischen Familiengeschichte unzertrennlich scheinen. Bis zu dem Tag, an dem Phoebe sich in den falschen Kerl verliebt und auf die schiefe Bahn gerät...