33. Kapitel

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Mavis

Nachdem ich aus Blakes Büro gegangen war und stumm an Carter vorbeilief, um aus dem gottverdammten Laden zu verschwinden, spürte ich einen beklemmenden Schmerz in meiner Magengegend, der mich fast kotzen ließ. Ein Schmerz, der sich so anfühlte, als würde mein Körper mir langsam signalisieren, dass er an all den von mir unterdrückten Emotionen kaputt gehen würde. Als würde er sich an mir rächen, dass ich nicht das rausließ, was eigentlich dringend raus musste.

Während mich mein Weg daraufhin durch die kühle und feuchte Dämmerung von London führte, entschied ich mich, dass ich heute Abend nicht arbeiten würde, wie ich es eigentlich sollte. Stattdessen würde ich mir den Gefallen tun und mich so sehr betrinken, dass ich dieses Leben und den damit verbundenen Schmerz nur für diese Nacht vergessen konnte.

Die lauten, ununterbrochenen Gedanken, die mir durch den Kopf wanderten und mich an die möglichen Konsequenzen erinnerten, die auf mein Handeln folgen könnten, wurden durch jeden Schluck, den ich von meinem Drink nahm, immer leiser. So leise, bis ich sie nicht mehr wahrnehmen konnte und nichts mehr spürte außer den Alkohol, der meine Sinne und meinen Körper zunehmend betäubte.

Die Bar, die ich mir für mein Vorhaben ausgewählt hatte, war die letzte auf der Liste derjenigen, die ich an diesem Abend eigentlich besuchen sollte. Sie war schick, aber nicht allzu gut besucht, als ich sie betrat und mich dort an den Tresen setzte.

Zwei Drinks waren nötig, um einen angenehmen Zustand von Taubheit zu erreichen. Angenehmer, aber noch lange nicht der Zustand, den ich erreichen wollte. Ich wollte den Zustand, den man als selbstzerstörerisch bezeichnen könnte. Die sieben Anrufe, die ich im Laufe des Abends von Carter erhielt und unbeantwortet ließ, ließen mich vermuten, dass er mir in Kürze womöglich einen Strich durch die Rechnung machen würde. Mich dermaßen zu betrinken, würde es mir allerdings erleichtern, die vielleicht bald schon folgenden Konsequenzen von ihm zu ertragen.

„Sieht aus als müsste ich dein Schmerzgedächtnis auffrischen", riss mich eine raue Stimme aus meiner Trance, als ich eine Ewigkeit gedankenlos in mein halbleeres Glas gestarrt hatte. Erschrocken von der nun spürbaren Präsenz hinter mir und dem heißen Atem in meinem Nacken, richtete ich langsam meinen Blick auf und in die verspiegelte Wand mir gegenüber hinter der Bartheke, die mir nun die leicht verzerrte Gestalt von Blake zeigte. Ein Bild, das meinen Atem augenblicklich stocken ließ.

Als hätte ich keinen einzigen Tropfen Alkohol im Organismus, durchschoss mich innerhalb einer Sekunde Adrenalin. Ein heftiges Zucken durchfuhr meinen Körper, als ich seine unerwartete Anwesenheit realisierte, sodass ich fast von meinem Hocker kippte. Daraufhin spürte ich, wie er seine Hand bestimmt an meinen unteren Rücken legte, als wollte er damit einen Sturz vom Hocker verhindern. Dann machte er, ohne seine Hand von mir zu lösen, einen Schritt neben mich in meinen Blickwinkel, um sich an den Tresen der Bar zu lehnen und seine Aufmerksamkeit auf mich zu richten.

Ich wusste nicht genau, was es war – sein ernster Blick, den er in meine Augen richtete, seine Hand auf meiner Haut oder der Alkohol –, aber ein unkontrollierbares Beben durchdrang plötzlich meinen Körper und breitete sich innerhalb eines Wimpernschlags in jede meiner Extremitäten aus. Ein Beben, von dem ich wusste, dass er es bemerkte und aus dem Augenwinkel wahrnahm, während er jeden Zentimeter meines Gesichts musterte.

„So wie du mich gerade mit deinen großen Augen ansiehst, könnte man meinen, du seist überrascht. Dabei wusstest du, was passieren würde", stellte er kühl fest und löste seine Hand von mir. Eine Aussage, die deutlich machte, dass es nicht nur das Beben in meinem Körper, sondern auch der Ausdruck in meinem Gesicht war, der ihm mein Unbehagen signalisierte. Obwohl seine Stimme ruhig und kontrolliert war, spürte ich die Wut, die er empfand.

„I-Ich dachte, du lässt Carter die Drecksarbeit machen", gestand ich ehrlich. Meine Stimme zitterte etwas, kam jedoch leichter über meine Lippen, als erwartet. Auch wenn es sich so anfühlte, als habe mich seine Anwesenheit auf einen Schlag ernüchtert, konnte ich spüren, dass der Alkohol mich meine Gedanken direkt aussprechen ließ. Ihn hier, noch heute Abend, nur wenige Stunden nach unserem Gespräch in seinem Büro, zu sehen, war das Letzte, was ich erwartet hatte. Ich hatte vermutet, dass es wichtigere Dinge gab, die er regeln musste, als das hier.

„Erinnerst du dich, was ich dir in Paris gesagt habe, was passiert, wenn du weiterhin Probleme machst?", fragte er daraufhin, ohne seine Aufmerksamkeit von meinen Augen zu lösen. Eine Frage, die mich sofort erstarren ließ. Ich wusste genau wovon er sprach und er wusste es aufgrund meiner Reaktion ebenfalls. „Es wäre unfair, ihn die Arbeit machen zu lassen, findest du nicht?", ergänzte er knapp. Die Art, wie er diese Dinge sagte und dabei zwischen meinen Augen hin und her pendelte, ließ mich die nun aufkommende Amüsiertheit seinerseits spüren.

„Du genießt es richtig, dieser sadistische Psychopath zu sein, oder?", fragte ich nun, nachdem ich für ein paar Sekunden stumm geblieben war. Es war für mich unbegreiflich, wie ein Mensch so unmenschlich und krank sein konnte, dass er es genoss, anderen Menschen Leid zuzufügen...

„Du offensichtlich auch", entgegnete er überzeugt und blickte mich unverändert ernst an.

„Wie bitte? Ich würde lieber sterben, als eine Sekunde länger die gleiche Luft wie du atmen zu müssen", antwortete ich schlagartig und schüttelte langsam fassungslos über seine Aussage meinen Kopf. Erst jetzt war der Alkohol in meinem Körper richtig spürbar. Ich fühlte wenig Hemmung, ihm gegenüber meine Abneigung auszusprechen.

„Das ist interessant, denn du weißt, dass ich das nicht tun müsste wenn du die Dinge machst, die ich dir sage. Und trotzdem wählst du immer wieder diesen Weg, was den Anschein erweckt, als wolltest du, dass ich dich bestrafe", sagte er ruhig, während sich sein bis zu diesem Zeitpunkt angespannter Kiefer lockerte.

„Kannst du deswegen nachts ruhig schlafen? Weil du dir einredest, dass die Menschen selbst schuld an dem Leid sind, das du ihnen zufügst?", fragte ich. Mir war klar, dass meine Aussage provokant und stichelnd war. Aber aufgrund des Grolls in mir, den ich ihm gegenüber empfand, war es mir egal, dass ich Dinge sagte, die ich womöglich besser nicht zu ihm sagen sollte.

„Trink aus, wir werden jetzt gehen", entgegnete er kühl und deutete kurz in die Richtung meines Drinks. Sein Kiefer begann nun erneut zu mahlen, wodurch ich erkannte, dass ihm meine Worte nicht passten. Ich konnte mir schon denken, dass es ihm nicht gefiel, dass er gerade nicht die Kontrolle über die Situation hatte, wie sonst.

„N-Nein", antwortete ich und schüttelte meinen Kopf. Ich würde nirgendwo mit ihm hingehen.

Eine leichtes Funkeln legte sich nun in seinen dunklen Augen. „Ich nehme an, dass du deinen vorlauten Mund gerade so voll nimmst, weil du betrunken bist und denkst, dass ich dir hier nichts tun kann", sagte er wieder.

„Ich weiß es sogar. Es ist dir wichtig, unauffällig zu bleiben, also wirst du mich sicherlich nicht aus einer öffentlichen Bar zerren", erwiderte ich überzeugt. Ich war mir sicher, was meine Aussage betraf, sonst hätte ich sie nicht gemacht. Ein Wissen, das ich mir im Laufe der Zeit über ihn angeeignet hatte. Er würde nicht riskieren, aufzufallen.

Für ein paar Sekunden hielt er inne und sah mich ernst an. „Es klingt fast so, als würdest du mich herausfordern", stellte er fest und machte eine weitere Pause, während er auf eine Antwort von mir wartete. Augenblicklich merkte ich wie mich seine Frage aus dem Konzept brachte weshalb ich einfach stumm blieb.

„Weil ich gerade nichts Besseres zu tun habe, werde ich diesen kläglichen Versuch, die Situation zu kontrollieren, anerkennen und eine Weile mitspielen, okay? Ich gebe dir etwas Zeit, in der du dir einreden kannst, dass du es geschafft hast, dich zu behaupten. Allerdings nur so lange, bis dich die Realität einholt. Die Realität, in der ich dort hinten" – er machte mit seiner Hand eine kurze Bewegung schräg hinter mich – „an dem Tisch sitze, einen Drink nehme und darauf warte, dass du diese Bar in spätestens ein paar Stunden verlässt, um dir anschließend zu zeigen, welche Folgen es hat, mich herauszufordern..."

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