29. Kapitel

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Blake 

„Sie kommen mir bekannt vor. Waren Sie schon einmal hier?", fragte Sawyer, der hinter dem Tresen der Bartheke stand und seinen Blick zu mir aufrichtete, als ich durch die Tür trat. Der Ausdruck in seinem Gesicht und der ironische Unterton in seiner Stimme machten die scherzhafte Absicht in seiner Frage deutlich.

„Schön zu sehen, dass du nicht angepisst bist", sagte ich daraufhin und schloss die Tür hinter mir, bevor ich meinen Blick nur flüchtig durch die leere Bar schweifen ließ und mit entspanntem Schritt auf ihn zuging. Ich musste zugeben, dass es mich etwas erleichterte zu sehen, dass er sich, auch wenn er es unterdrücken versuchte, über meinen unangekündigten Besuch freute. Etwas, das ich eigentlich nicht erwartet hatte, nachdem ich seine letzten Anrufe nicht beantwortet hatte.

„War ich das jemals? Ich weiß doch, wie wichtig du für dein Geschäft bist", entgegnete er und richtete seine Aufmerksamkeit erneut für einen Augenblick hinter die Bartheke, wo er sich ein paar Dinge auf einen Block notierte.

„Unentbehrlich", verbesserte ich nun ebenfalls scherzhaft, was ihn leicht schmunzeln ließ, während ich mich ihm gegenüber auf einen der Barhocker setzte.

„Und ich weiß auch, dass du deinen Arsch nur in meine Bar schleppst, wenn du dem Ganzen aus dem Weg gehen willst", fügte er hinzu und richtete seinen Blick wieder auf mich. Worte, die ich ignorierte. Stattdessen machte ich mit meinem Kopf auffordernd eine kurze Bewegung in die Richtung hinter ihn, um ihm zu signalisieren, dass ich einen Drink wollte.

Sawyer legte seinen Stift zur Seite und wendete sich kurz von mir ab, um nach der Flasche Whisky zu greifen, den ich immer trank, und wendete sich mir wieder zu. „Du siehst richtig scheiße aus. Soll ich trotzdem fragen, wie es dir geht?", fragte er, während er ein Glas nahm, es befüllte und dieses dann vor mich auf das glänzende Holz der Bar stellte.

„Wenn du willst", entgegnete ich locker und nahm einen großen Schluck des Drinks. Auch wenn ich es ihm nicht bestätigt hatte, hatte er recht damit, dass ich zu ihm kam, wenn ich Dingen aus meinem Leben aus dem Weg gehen wollte. Wenn ich etwas Abstand gewinnen musste. Weil er der einzige Mensch war, dessen Anwesenheit mich für eine Weile von all der Scheiße in meinem Leben wegbringen konnte. Dennoch redete ich nie mit ihm über die Dinge, von denen ich Abstand brauchte.

„Wie geht's dir?"

„Bestens", antwortete ich knapp und ließ meinen Blick nun durch das leere Lokal wandern. „Warum ist hier nichts los?", fragte ich daraufhin und sah zu ihm zurück.

„Ruhetag", erwiderte er.

„Du kannst dir einen Ruhetag erlauben?", fragte ich überrascht. Da es eine Weile her war, dass wir miteinander gesprochen hatten, wusste ich nicht, wie sein Geschäft lief. Aber da es noch immer existierte, musste es wohl laufen.

„Offensichtlich."

„Sieht so aus, als ob ich im falschen Laden arbeite", gab ich ironisch wieder und nahm erneut einen Schluck meines Drinks.

„Nicht nur im falschen Laden", entgegnete er kühl. Worte, die ich sofort als provokante Stichelei seinerseits erkannte. Ich wusste direkt, auf was er anspielte...

„Ich will mich nicht streiten, Sawyer", antwortete ich daraufhin ernst. Eine Warnung, denn das würde passieren, wenn er nun damit anfing.

„Sondern? Warum bist du hier?" Ein Teil in ihm ließ nun doch durchblicken, dass er es mir übel nahm, dass ich mich nicht bei ihm meldete. Auf der einen Seite zwar verständlich, aber dennoch etwas, das er akzeptieren musste.

„Um Zeit mit meinem kleinen Bruder zu verbringen", antwortete ich ehrlich.

„Das letzte Mal ist eine Weile her", stellte er daraufhin fest, nachdem er für einen kurzen Moment geschwiegen hatte. Der Ausdruck in seiner Stimme machte ein Bedauern deutlich. Ein Bedauern und eine Traurigkeit, von der ich wusste, dass er sie nicht vor mir zugeben würde, auch wenn sie da war. So war er schon immer...

„Ich weiß. Es kam viel dazwischen", bestätigte ich ruhig und richtete meine Aufmerksamkeit auf mein Glas. Seit das Geschäft lief, gab es nicht mehr viel Raum für andere Dinge außerhalb davon. Es gab zu viel, dem ich mich widmen musste.

„Irgendwas Bestimmtes?", fragte er erneut, weshalb ich meinen Blick wieder zu ihm aufrichtete. Augenblicklich schoss mir die Erinnerung an das letzte Ereignis mit Felix in den Kopf. Wie ich ihn umgebracht hatte und mich wieder wie in der Situation fühlte, wie damals, als ich unseren Vater erschlagen hatte.

„Nein", sagte ich und schüttelte leicht meinen Kopf. Ein Teil in mir wollte mit Sawyer über alles sprechen, das Bestandteil meines Lebens war. Über jede einzelne gute und schlechte Erfahrung. Aber ich wusste, dass ich das nicht konnte. Weil er es nicht verkraften und daran kaputtgehen würde.

„Okay", antwortete er knapp und wendete seine Aufmerksamkeit von mir ab, um sie zurück auf den Block zu richten, der noch immer vor ihm lag. Eine Geste, die ich von ihm kannte, wenn er versuchte, sich emotional von etwas zu distanzieren.

„Was bedeutet dieser Blick?", wollte ich dennoch wissen.

„Nichts", sagte er und hielt daraufhin für ein paar Sekunden inne. „Ich frage mich nur, warum es so geworden ist wie es heute ist", fuhr er schließlich fort. 

„Was meinst du?" 

„Das hier. Du und ich. Wenn man das mit dem vergleicht, wie es früher mal war und wie es heute ist", erklärte er und sah mich wieder an. Der Ausdruck in seiner Stimme und der Blick in seinen Augen waren schmerzlich. So schmerzlich, dass ich fast wieder den kleinen Saw vor mir sah, der er früher mal war.

„Wir sind erwachsen geworden. Das ändert aber nichts daran, dass du noch immer das Wichtigste für mich im Leben bist, Kleiner. Auch wenn ich nicht mehr so oft bei dir bin wie früher", sagte ich ernst, nachdem ich einen Augenblick über seine Worte nachgedacht hatte.

„Mir fehlt das."

„Mir manchmal auch", gestand ich und exte den Rest meines Drinks. Auch wenn ich drohte, nostalgisch und emotional zu werden, würde ich nicht zulassen, dass dies passierte. Ich trauerte niemals etwas hinterher, das der Vergangenheit angehörte. Das würde das Leben nur unnötig schwerer machen, als es sein musste.

Ein leichtes Schmunzeln legte sich nun auf Sawyers Lippen, während er erneut nach der Whiskyflasche griff, sie öffnete und ein weiteres Mal etwas in mein Glas nachschenkte. Ein Schmunzeln, das so schnell wieder verschwand, wie es gekommen war.

„Ich weiß nicht, ob ich dir das schon mal gesagt habe, aber du bist kein schlechter Mensch, Blake. Auch wenn es die Dinge sind, die du tust. Oder in der Vergangenheit getan hast", sagte er ruhig. Worte, von denen ich vermutete, dass er sie bewusst gewählt hatte.

Seit Sawyer ein kleiner Knirps war, wusste ich, wie clever er war. Vermutlich sogar um einiges cleverer als ich. Er war eine Persönlichkeit, die man tendenziell unterschätzen würde. Obwohl er damals ein Kind war und wir nie darüber gesprochen hatten, ahnte ich schon immer, dass er wusste, dass ich unseren Vater umgebracht hatte. Eine Ahnung, die ich nun das erste Mal durch seine Worte bestätigt bekam, auch wenn er es nicht direkt aussprach...

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