2. Kapitel

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Mavis {Heute}

„Ich hätte gerne noch einen", teilte Phoebe flüchtig einer Barkeeperin mit, die uns auf der anderen Seite der Theke gegenüberstand und deren Aufmerksamkeit konzentriert vor ihr lag. Mit ihrem Finger tippte sie dabei auf den Rand ihres leeren Glases, sodass sie für einen kurzen Moment ihre Aufmerksamkeit auf sich zog und diese bestätigend nickte.

„Vielleicht sollten wir vorher etwas essen. Ich weiß nicht, wie gut dir dieser dritte Negroni auf nüchternem Magen bekommen wird", merkte ich meiner Schwester gegenüber an, nachdem ich einen kleinen Schluck von meinem Drink genommen und ihn daraufhin wieder vor mir abgestellt hatte.

„Das ist dann zum Glück mein Problem, nicht deins", entgegnete sie und richtete ihren Blick wieder auf mich. Ihre Lippen umspielte ein leichtes Lächeln, nachdem sie diese Worte ausgesprochen hatte.

Jedes Mal aufs Neue fiel mir auf, wie unterschiedlich wir beide beim Thema Alkohol waren. Wenn wir wie an diesem Abend im Londoner Nachtleben unterwegs waren, trank sie einen Drink nach dem anderen, bis sie sich am nächsten Tag häufig nicht mehr so gut an die vergangene Nacht erinnern konnte. Ich hingegen trank meistens höchstens zwei Drinks, um meine Genussgrenze nicht zu überschreiten und an jedem Abend voll und ganz die Kontrolle zu bewahren.

„Darf ich dich daran erinnern, dass wir zusammenwohnen? Wenn du die ganze Nacht im Badezimmer vor der Toilette auf dem Boden hängst und mich wachhältst, ist es doch mein Problem. Und wir beide wissen, dass du mich immer weckst, wenn dir schlecht wird, weil du Angst vorm Kotzen hast", gab ich zurück, woraufhin sie noch breiter lächelte. Sie wusste, dass ich recht hatte. Das süffisante Grinsen in ihrem Gesicht steckte mich sofort an.

Da wir immer zusammen waren, konnte ich bei jedem Ende solch einer Nacht sicherstellen, dass sie sicher in ihrem Bett landete, wodurch ich die Tatsache ihres destruktiven Alkoholkonsums besser ertragen konnte. Dennoch besorgte es mich. Mit ihren 18 Jahren könnte man erwarten, dass sie wusste, wie man verantwortungsvoll trank. Aber mir war klar, dass man sie nicht mit anderen 18-Jährigen vergleichen konnte, denn sie hatte eine traumatische Vergangenheit, die sie offensichtlich regelmäßig mit Alkohol zu ertränken versuchte.

Auch ich hatte diese Vergangenheit, aber ich entschied mich bewusst dafür, sie so zu ertragen, wie sie war und existierte: grausam und unveränderbar. Aber unsere neugewonnene Freiheit war mir kostbarer als das Bedürfnis, meine Erinnerungen aus meinem Gedächtnis zu trinken. Denn ich sah es als Möglichkeit, ein besseres Leben zu führen, als noch vor 2 Jahren in Gravecliff.

Phoebes Augen wanderten für einen kurzen Moment an mir vorbei und schräg hinter mich, als würde sie jemanden ansehen. Dies hatte sie, seit wir hier in dieser überfüllten Bar saßen, in größeren Abständen immer wieder getan. Solche Dinge alleine sorgten dafür, dass meine Herzfrequenz innerhalb von Sekunden anstieg, als würde mir jemand im Nacken sitzen. Eine Eigenschaft, die ich trotz der Zeit, in der wir schon in London lebten, nicht verlor.

Daraufhin löste ich meine Augen ebenfalls von ihr und drehte langsam meinen Kopf in die Richtung, in die sie sah, um meinen Blick für einen Moment suchend durch das Lokal und die Menschen, die sich darin befanden, schweifen zu lassen. Ich schrieb es meiner Vorsicht und der dazugehörigen Paranoia zu, dass ich in kürzester Zeit ausmachen konnte, wer die Aufmerksamkeit von Phoebe immer wieder auf sich zog.

Auf der anderen Seite des Raumes stand ein großer, schwarzhaariger Kerl in dunkler Kleidung. Er unterhielt sich gelassen mit einer Person, die mit dem Rücken zu uns stand und somit nicht zu erkennen war. Während er sprach, konnte ich sehen, wie auch er seinen Blick von seinem Gegenüber abwendete und in unsere Richtung sah. Mit Augen, die so eisig blau waren, dass sie trotz des schummrigen Lichts deutlich wahrzunehmen waren. Ich musste zugeben, dass er gut aussah, weshalb ich verstehen konnte, dass Phoebe offensichtlich Schwierigkeiten hatte, ihre Augen komplett von ihm zu lassen. Er hatte etwas aufregendes und gefährliches an sich, das verlockend wirkte.

„Schau noch ein paar Mal öfter rüber. Vielleicht kommt er dann hierher", scherzte ich ironisch und richtete meine Aufmerksamkeit wieder auf sie zurück. Daraufhin griff ich wieder nach meinem Glas und nahm einen weiteren Schluck daraus, bevor ich ihn erneut vor mir abstellte und mit meinem Daumen den Lippenstift vom Rand wischte, der daran zurückgeblieben war.

„Das tut er schon", entgegnete sie dann knapp und richtete ihren Blick schnell auf das leere Glas vor sich, was mich schmunzeln ließ. Es wirkte so, als hätte sie nicht damit gerechnet, dass so schnell eine Reaktion auf ihre Blicke kommen würde. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass Phoebe nicht wusste, wie schön sie war und dass man sie erst recht ansprechen würde, wenn sie Signale sendete.

Innerhalb von ein paar Sekunden nahm ich plötzlich eine große Präsenz in meinem Blickwinkel wahr und sah, wie sie mit entspanntem Schritt an uns vorbei lief und dann kurz danach neben Phoebe an der Bartheke halt machte.

Obwohl er sie auffordernd ansah, blieb ihr Blick weiterhin unbeeindruckt auf ihr leeres Glas gesenkt. Ganz im Gegensatz zu ihr machte ich allerdings keinen Anstand, seinem Blick auszuweichen oder ihn nur unauffällig anzusehen. Die Art, wie seine Präsenz den Raum einnahm, gefiel mir nicht, weshalb ich ihn direkt ansah, als er zwischen meiner Schwester und mir hin und her pendelte. Die Kälte, die seine Augen ausstrahlten, jagte mir einen Schauer über den Rücken.

„Kann ich etwas für dich tun?", fragte er mit dunkler Stimme, als er seine Aufmerksamkeit erneut auf meine Schwester gerichtet hatte. Diese Frage brachte sie dazu, dass sie nun erstmals ihren Blick hob und ihm in sein Gesicht sah. Es wirkte so, als würde sie, in dem Moment, in der sie ihm ins Gesicht blickte, von seinen Augen hypnotisiert werden, denn sie öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, aber brachte kein Wort heraus. Für den Bruchteil einer Sekunde wanderte seine Aufmerksamkeit auf ihren Mund, aber fand dann zu ihren Augen zurück, bevor er etwas schmunzelte. „Wie ist dein Name?", fragte er erneut.

„Phoebe", brachte sie endlich heraus und räusperte sich kurz.

„Schöner Name. Ich bin Malik", gab er wieder und reichte ihr seine Hand, dessen Bewegung meine Augen aufmerksam folgten. Als sie ihre leicht in seine legte, konnte ich sehen, dass er einige Ringe trug. Einer von ihnen stach mir allerdings besonders ins Auge, denn er trug die Initialien F.P. darauf. Auf seinem Handrücken war ein Teil eines Tattoos zu erkennen, welches, so vermutete ich, unter der Kleidung auf seiner Haut weiterging.

Als sie seine Hand wieder losgelassen hatte, löste er seine Augen von ihren und sah daraufhin zu mir rüber, so dass sein Blick meinen traf. Es schien so, als wartete er darauf, dass ich ihm ganz selbstverständlich auch meinen Namen nannte. „Das ist meine Schwester Mavis", sagte Phoebe schließlich, als sie feststellte, dass ich es nicht tat. Innerlich verfluchte ich sie dafür.

Langsam nickte er verstehend und sah dann erneut für einen kurzen Augenblick zwischen uns hin und her, bevor er wieder zu sprechen begann. „Ich stelle die Frage gerne noch einmal: Kann ich etwas für euch tun?"

„Was hast du denn anzubieten?", stellte Phoebe daraufhin die Gegenfrage. Für einen kurzen Moment wirkte es so, als würde er überlegen. Dann richtete er jedoch seine Aufmerksamkeit auf das mit roter Flüssigkeit gefüllte Glas vor ihr und warf einen kurzen Blick hinein.

„Bedauerlich, wie wenig Eis in deinem Drink ist", sagte er nun und sah ihr dann zurück ins Gesicht. Seine Lippen formten sich dabei wieder zu einem leichten Lächeln. Direkt in dem Moment, als diese kryptischen Worte seinen Mund verlassen hatten, wusste ich, was er damit meinte. Der Typ dealte mit Drogen...

„Ich denke, wir sind versorgt", schaltete ich mich nun direkt ein, weshalb er seinen Blick wieder auf mich richtete.

„Sicher?"

„Absolut", antwortete ich nochmals und nickte überzeugt, bevor ich nach meinem Drink griff und einen weiteren Schluck daraus nahm. Ich muss zugeben, dass es mich etwas überraschte, dass man in Bars auf solche Leute treffen konnte. Genauso überraschte es mich, dass sie dabei nicht auffielen.

„Möchtest du auch etwas sagen, oder gibt deine Schwester den Ton für dich an?", wendete er sich jetzt wieder an Phoebe. Ich wusste, dass seine Worte bewusst provokant gewählt waren, was das Lächeln auf seinen Lippen bestätigte. Er wollte sie herausfordern. Bevor sie jedoch etwas auf seine Frage antworten konnte, lehnte er sich leicht vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr...

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