38. Kapitel

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Blake

„Du weißt, wo er ist",  sagte Mavis knapp und sah mich an. Der Ausdruck in ihren Augen war genauso hoffnungsvoll wie vor einigen Stunden, als sie mich in meinem Büro nach Felix gefragt hatte. Dort hatte ich ihren Mut, mich nach ihm zu fragen, den Pillen zugeschrieben, die sie genommen hatte. Obwohl sie jetzt so wirkte, als habe die Wirkung nachgelassen, war dies wieder das erste Thema, das sie ansprach, als ich sie in der großen Suite antraf, in der wir wohnten.

„Statt über Felix zu sprechen, sollten wir darüber reden, dass du zugedröhnt arbeitest", antwortete ich und nahm einen Schluck meines Drinks, den ich mir einen Augenblick zuvor eingeschenkt hatte, bevor ich mich in ihre Richtung wendete, um sie anzusehen. In dem Moment, in dem ich diese Worte ausgesprochen hatte, wanderte ihr Blick für den Bruchteil einer Sekunde rüber zu Carter, der gelassen auf einem Sessel saß und die Szene vor sich beobachtete. Ich hatte ihm längst von unserem Gespräch in London erzählt. Dennoch genoss ich es, zu sehen, wie es sie mit Unbehagen erfüllte.

„Mich zuzudröhnen, wie du es nennst, wäre vielleicht nicht nötig, wenn ich mit ihm reden könnte", entgegnete sie daraufhin. Sie war hartnäckiger, als ich erwartet hatte. Ich merkte, wie wichtig es ihr war, was ich nutzen konnte, um herauszufinden, was sie von ihm wollte. Warum sie seinen Namen so lange für sich behalten hatte und nun immer wieder nach ihm fragte. 

„Über was, Mavis?", fragte ich wieder. Ungeduldig. Die einzige Frage meinerseits, die sie jedes Mal von mir hören würde, wenn sie diesen Wunsch äußerte. Die Frage, die sie erneut nur mit einem Schweigen beantwortete. „Und hiermit ist das Thema ein für alle Mal beendet. Denn ich lasse dich nicht mit ihm reden, weder alleine noch ohne zu wissen, worum es geht", ergänzte ich, um das Gespräch zu beenden. Daraufhin exte ich den Rest meines Drinks und stellte das Glas auf der Bar ab, bevor ich einen kurzen Blick auf meine Uhr warf, um festzustellen, dass das Event in Kürze beginnen würde.

„Es ist nichts, was dich, das Geschäft oder sonst etwas betrifft, das du wissen müsstest. Es ist für dich komplett bedeutungslos, das schwöre ich", flehte sie. Der Ausdruck in ihren Augen, als ich zu ihr zurückblickte, machte deutlicher als jedes einzelne ihrer Worte, wie verzweifelt sie war.

„So bedeutungslos kann es nicht sein, wenn du es schon wieder darauf anlegst, mich wütend zu machen. Besonders jetzt, in einem Moment, in dem du mich nicht wütend machen solltest," fuhr ich sie an. Meine Geduld nahm gerade ihr Ende, was der schroffe Ton in meiner Stimme hörbar machte. Aus dem Augenwinkel vernahm ich deshalb Carters Bewegung, wie er sich aus dem Sessel erhob und einen kleinen Schritt in unsere Richtung machte, bereit, die Situation zu deeskalieren, wenn nötig.

Mein Blick wanderte zwischen ihren Augen hin und her. Der Ausdruck in ihnen und das Zögern in ihrem Gesicht offenbarten, wie sehr sie mit sich selbst haderte, mir eine Antwort zu geben. Eine Antwort, die mich zufriedenstellen und davon überzeugen würde, ihr das zu geben, was sie so verzweifelt wollte.

„E-Es geht um... meine Schwester. Sie.. sie ist gestorben, und er weiß vielleicht, warum," stammelte sie schließlich, bevor sie ihren Blick von meinem abwendete und zu Boden richtete, als könnte sie mich nicht ansehen, während sie diese Worte aussprach.

Überrascht stellte ich fest, dass das, was dieser elende Wichser gesagt hatte, tatsächlich der Grund war. Es ging wirklich um ihre kleine Schwester...

„Wie tragisch," entgegnete ich knapp. „Noch tragischer ist, dass er tot ist und dir deine Fragen nicht mehr beantworten kann," fügte ich hinzu. Ich hatte die Information, die ich wollte, also war es nicht länger nötig, für mich zu behalten, dass er nicht mehr lebte. Eine Aussage, die dafür sorgte, dass sie ihren nun entsetzen Blick schlagartig zu mir aufrichtete. 

„Nein, du lügst," entgegnete sie und schüttelte fassungslos den Kopf. Ihr Blick suchte verzweifelt Carter, als erwartete sie, einen Hinweis zu finden, dass ich log. Als sie jedoch keinen Trost in seinem neutralen Ausdruck fand, kehrte ihr Blick zurück zu mir. Der unerträgliche Schmerz, den sie empfand, war deutlich sichtbar, als ihre großen Augen glasig wurden.

„Ist dir das jetzt schmerzhaft genug? Wenn ich dir eine Frage stelle, antwortest du mir beim ersten, nicht beim fünften Mal, ist das klar?", fragte ich. Ich wusste, dass ich damit Salz in ihre bereits blutenden Wunden streute. Sie musste es lernen und hatte es immer wieder bei allem, was sie tat, drauf angelegt, es auf die harte Tour zu tun.

Ihre darauf folgende Reaktion ließ keine Zweifel daran, dass meine Worte eine gewaltige Wirkung zeigten, denn innerhalb eines Augenblicks verpasste sie mir einen Schlag ins Gesicht. Eine Geste, die Carter ein weiteres Mal aus seiner Regungslosigkeit zwang und dafür sorgte, dass er sich uns näherte. 

Mavis' Augen, mit denen sie mich hasserfüllt ansah, füllten sich zunehmend mit Tränen. Es sah so aus, als würde sie drohen, in eine nie zuvor gezeigte Emotionalität und Traurigkeit abzustürzen, aus der sie nicht mehr herauskam, wenn sie einmal drin war. Ein Zustand, in dem ich sie nicht brauchen konnte. Nicht heue Abend. Niemals. Also machte ich sofort einen weiteren Schritt auf sie zu und griff nach ihren Handgelenken. Eine Bewegung, die sie zusammenzucken ließ, bevor sie ihr Gesicht von mir abwendete. Erschrocken wich sie nach hinten, wo ich sie grob an die Kante der Bartheke stieß.

„Blake...", vernahm ich Carters Stimme dazwischenfahren. Der warnende Ton darin zeigte mir, dass er die Sorge hatte, ich würde aufgrund ihrer Ohrfeige die Kontrolle über mich verlieren und sie verletzen. 

„Wehe, du weinst," zischte ich ernst und versuchte, ihren Blick zu fangen, den sie nach wie vor von mir abgewendet hatte. Ich konnte spüren, wie ihre Körperhaltung zunehmend starrer wurde, was die Intensität ihrer Emotionen deutlich machte. So intensiv, dass ich befürchtete, dass meine Worte sie nicht mehr erreichen würden. Also legte ich meine Hand mit festem Griff um ihren Kiefer und zwang sie, mich anzusehen, wogegen sie sich mit aller Kraft zu wehren versuchte. Als ich ihr Gesicht zu mir aufrichtete, sah ich, dass sie bereits weinte. 

„Ich erwarte Professionalität von dir. In der Vergangenheit hast du oft genug gezeigt, dass du das kannst. Also zeig es mir auch jetzt," forderte ich ernst. Ich hatte sie schon oft in Situationen gebracht, in denen sie hätte weinen können. Aber in jeder einzelnen hatte sie es nicht zugelassen. Eine Stärke, die ich an ihr schätzte. 

Für eine Weile sah ich sie stumm an, um sicherzustellen, dass meine Worte, wie auch alle anderen zuvor, bei ihr ankamen. Ihre Lippen presste sie schmerzlich aufeinander, was mir zeigte, wie sie sich mühsam zu beruhigen versuchte. Als ich das Gefühl hatte, dass sie es wirklich tat, ließ ich zuerst ihr Gesicht und dann auch ihr Handgelenk los, bevor sie ihren Blick wieder zu Carter richtete, der ihr daraufhin mit einer Handbewegung den Weg aus dem Raum deutete...

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