20. Kapitel

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Mavis 

Paris war eine Stadt, von der ein Bild in meinem Kopf existierte. Ich stellte sie mir so vor, wie das, was man immer in Filmen oder Serien sehen konnte. Ich wusste, dass es allerdings keine Seltenheit war, dass die Vorstellungen, die Menschen von der Stadt der Liebe hatten, nicht immer mit der Realität übereinstimmten. Manche Menschen traf die Realität so hart, dass sie psychische Erkrankungen entwickelten: Das sogenannte Paris-Syndrom. Und dabei konnte die Stadt nicht mal etwas dafür, dass sie von so vielen Menschen idealisiert wurde und dann nicht deren Vorstellungen entsprach.

Ich wusste nicht, was es war - ob es der Grund für meinen Aufenthalt oder die verregnete Gräue über der Stadt - aber von dem Moment an, von dem ich aus dem Flugzeug gestiegen war, fühlte ich mich noch unglücklicher als im weitaus verregneteren und graueren London.

Ich hatte mich dabei erwischt, wie ich im Flugzeug darüber fantasierte, wie sehr es mir entgegen gekommen wäre, wenn ein Triebwerk ausgefallen und wir abgestürzt wären. Auch wenn das wahrscheinlich einen grausamen und langen Tod bedeutet hätte, wäre es danach vorbei gewesen. Dann müsste ich keine Zwei Tage mit einem Menschen verbringen, der in jeder Hinsicht unmenschlich zu sein schien. Bedauerlicherweise stürzten wir nicht ab sondern landeten nach 1,5 Stunden am Charles-de-Gaulle.

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Für einen kurzen Augenblick blieb ich wie angewurzelt in dem kleinen Aufzug stehen, dessen Türen sich langsam geöffnet hatten und mir somit einen ersten Blick in eine helle, lichtdurchflutete Suite gewährten. Eine Suite, die so gigantisch war, dass meine eingeschränkte Sicht nicht ansatzweise alles erfassen konnte. Für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, dass ich mich womöglich verfahren hatte und in einer anderen Etage angekommen war. Aber nachdem ich einen erneuten Blick auf die Knöpfe des Fahrstuhls gerichtet hatte, stellte ich fest, dass es außer dem Penthouse, in dem ich mich gerade befand, und der Lobby keine weiteren Etagen gab, zu der dieser Aufzug fuhr.

Mit festem Griff umklammerte ich den Riemen meiner Tasche und trat dann einige Schritte aus dem Aufzug heraus. Daraufhin hielt ich erneut einige Sekunden inne, nachdem sich seine Türen fast lautlos hinter mir geschlossen hatten. Ich lauschte nach Geräuschen, die mir Hinweise darauf geben konnten, ob ich alleine war oder nicht. Die Tatsache, dass man mir an der Rezeption den zweiten Schlüssel für die Suite ausgehändigt hatte, ließ mich vermuten, dass Blake möglicherweise hier oben war. 

„Hallo?", rief ich knapp. Nachdem ein paar Sekunden vergangen waren und ich keine Antwort erhalten hatte, atmete ich etwas erleichtert aus. Es schien, als sei außer mir niemand hier. Mein umherwandernder Blick erforschte zuerst den mit edlen Möbeln eingerichteten Wohnbereich und den dahinterliegenden Essbereich mit Bar und einer leicht abgetrennten Küche. Ein helles Licht drang durch die zahlreichen Fenster und ermöglichte einen atemberaubenden Blick auf eine Terrasse und über Paris. Als ich weiterging und verschiedene Türen öffnete, entdeckte ich Badezimmer und verschiedene Schlafzimmer. Ich entschied mich für ein kleineres Zimmer, im hintersten Teil der Suite.

Ein angenehmer, blumiger Geruch stieg mir in die Nase, als ich in den warm eingerichteten Raum hineingetreten war und meine Tasche auf der Tagesdecke des Bettes ablegte. Ich bemerkte, dass der Geruch von Blumen kam, die in einer Vase auf einem Tisch neben dem hohen Fenster standen. Langsam ging ich auf das Fenster zu und richtete meinen Blick für einen Moment in die Ferne, um die Stadt zu betrachten.

Nachdem ich meinen zunehmend verträumten Blick wieder losgerissen hatte, ließ ich ihn erneut wandern. Über die Möbel und alles, was sich in diesem sündhaft teuer aussehenden Raum befand, einschließlich eines Holzschrankes mit Glasfront, in dem sich etwas befand. Verwirrt öffnete ich ihn und sah, dass sich darin Abendkleider befanden über die nun meine Aufmerksamkeit schweifte. 

„Das Hotel stellt sie zur Verfügung. Du kannst dir für heute Abend eins aussuchen.", vernahm ich plötzlich eine raue Stimme und drehte schlagartig meinen Kopf in die Richtung, aus der sie kam, nur um daraufhin festzustellen, dass Blake am Türrahmen der geöffneten Tür lehnte und zu mir rüber sah. Sein Blick war wie gewöhnlich ernst. Sofort, als ich seine Präsenz bemerkte, schnellte mein Puls in die Höhe. Wie war es möglich, dass ich ihn nicht gehört hatte? Und war er jetzt erst gekommen, oder war er doch schon hier? 

„Du wusstest, dass ich dieses Zimmer nehmen würde", stellte ich daraufhin fest und löste meinen Blick von ihm, um ihn dann zurück auf die Kleider zu richten und sie mir anzusehen. Jedes einzelne von ihnen war atemberaubend schön, dass ich nicht wusste, wie ich mich für eines entscheiden sollte.

„Es ist das Zimmer, das am weitesten von den anderen entfernt liegt.", sagte er, weshalb ich ein weiteres Mal für einen kurzen Augenblick zu ihm zurück sah. „Ich durchschaue dich in jeder Hinsicht. Das sollte dich nicht länger überraschen.", fügte er hinzu, bevor ich meinen genervten Blick wieder von ihm löste. Ich musste zugeben, dass ich, auch wenn ich es, ihn und seine Überheblichkeit hasste, erstaunlich fand, dass er offensichtlich wirklich wusste, wie ich dachte. Denn genau damit hatte er Recht. Ich hatte dieses Zimmer gewählt, weil es mir die Hoffnung gab, so weit weg von ihm zu schlafen wie möglich, um nicht mehr Zeit in seiner Nähe verbringen zu müssen, als nötig.

„Dann tu uns beiden doch den Gefallen und nutze deine übersinnlichen, gedankenlesenden Fähigkeiten in jeder Situation. Denn das würde bedeuten, dass wir weniger miteinander kommunizieren müssen, und das käme mir sehr entgegen", antwortete ich daraufhin sarkastisch und nahm eines der Kleider aus dem Schrank, um es auf das Bett zu legen.

„Ich nutze lieber meine Autorität dir gegenüber um dir dein vorlautes Mundwerk abzutrainieren.", sagte er und trat langsam in den Raum hinein, weshalb ich meine Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete. Mein Puls erhöhte sich noch mehr, als er ein paar Schritte auf mich zu machte aber dann an mir vorbei und zum Fenster ging um einen Blick raus zu werfen, wie auch ich es getan hatte. „Auch wenn es mir womöglich fehlen würde, wenn es weg wäre." 

Es wunderte mich keinesfalls, dass diese beiden Aussagen in ihrer Ambivalenz nicht zu übertreffen waren. Sie waren so ambivalent wie Blake selbst. Aus diesem Grund verstand ich nicht, was er mir damit zu verstehen geben wollte. Was er bezwecken wollte.

„Dann mach es nicht", antwortete ich knapp, nachdem ich für einen Moment innegehalten hatte, um über seine und meine Worte nachzudenken. Darüber, ob sie klug waren...

„Und lasse die Zügel locker? Was meinst du, was dann passiert?", stellte er die Gegenfrage, nachdem er sich wieder zu mir umgedreht hatte und ein paar Schritte auf mich zuging. Sein düsterer und ernster Blick fokussierte mich dabei.

„Nichts anderes als jetzt. Ich mache das, was du mir sagst, auch wenn es nicht auf die Weise ist, wie du es gerne hättest. Dennoch mache ich es. Ich bin hier."

„Richtig. Weil ich die Zügel nicht locker lasse. Du bist keine Person, der ich Freiraum gewähre, solange du mir nicht gezeigt hast, dass ich ihn dir gewähren kann. Deine vorlaute Klappe ist ein Beispiele dafür", sagte er diesmal mit erhobener und ernster Stimme. Ich merkte, dass ich ihn aufgebracht und wütend gemacht hatte, weshalb ich einen kleinen Schritt nach hinten ging und das Fußende des Bettes an meinen Beinen spürte, als er beim Sprechen auf mich zugekommen war und mir ins Gesicht sah.

Obwohl ich den Impuls verspürte, erneut etwas zu sagen, tat ich es nicht. Weil ich Angst davor hatte, was er machen würde, wenn ich es tat. Angst davor, was er noch in seinem Folter-Petto hatte – etwas, das mir zeigte, dass er mit seiner Aussage richtig lag. Eine Angst, die ich verspürte, weil er diese Person war und schlimme Dinge tat. Weil er die Zügel nicht locker ließ und sich nicht nachgiebig zeigte. Eine Erkenntnis, die mich meinen Mund geschlossen halten ließ.

Leicht zufrieden nickte er wegen meiner nicht existierenden Reaktion auf seine Worte. „Ich hoffe, wir verstehen uns auch in dem Punkt, wenn ich dir sage, wie wichtig dieser Abend heute ist, und dass ich von dir erwarte, dass du dich vorbildlich verhältst. Anders als beim letzten Mal", sagte er und stoppte daraufhin für ein paar Sekunden, um zwischen meinen Augen hin und her zu sehen. „Wenn nicht und du heute erneut zu einem Problem wirst, werde ich jegliche deiner Grenzen überschreiten müssen, die ich aus Kulanz bis zum jetzigen Zeitpunkt nicht überschritten habe.." 

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