Ich rieb mir über die Schläfen, während ich die ganzen Unterlagen auf meinem Schreibtisch betrachtete. Akten über Akten stapelten sich dort. Alle Nymphen und all ihre Familienmitglieder, zu jeder Person gab es eine. Oder anders ausgedrückt: Personen, die erpresst werden mussten, und Personen, die sich als Druckmittel eigneten.
Seit Stunden war ich damit beschäftigt, mir zu überlegen, welche Person ich aus welcher Familie entführen wollte. Und nicht nur das. Ich musste mir auch noch überlegen, wann ich wen entführen würde. Viele Dinge, die ich festlegen musste. Einfach eine Schülerin zu sein, erschien mir momentan sehr verlockend. Und dabei hatte ich hier kein einziges ruhiges Schuljahr erlebt. Die Flucht von Sirius, das trimagische Turnier, meine Vorbereitung für den Beitritt bei den Todessern, alles war stressig gewesen, aber ich hatte immer den Alltag als Schülerin als Ablenkung gehabt. Einen Tagesablauf, an den ich mich entlanghangeln konnte. Der war jetzt weg.
Während all meine Freunde in den Unterricht gingen, saß ich alleine an diesem Schreibtisch und grübelte über die Entführung von irgendwelchen Menschen. Mein Blick blieb an der Akte von David Simos, der aktuellen Nymphe von Hera hängen. Er war immer so nett gewesen, hatte ohne zu zögern Sirius bei sich versteckt. Und ich würde ihm schrecklich wehtun, indem ich eine ihm nahestehende Person entführen würde. Die Frage war nur, ob ich seine Ehefrau, seine Tochter, seinen Schwiegersohn oder eines der drei Enkelkinder? Welche Person würde wohl bei den drei kleinen Kindern das kleinste Trauma auslösen? Lincoln, der jüngste Enkelsohn, war schließlich gerade einmal sieben. So alt, wie ich damals war, als mir meine Eltern genommen worden waren.
Ich sah zu den Akten von Davids Tochter und ihrem Ehemann. Die beiden würde ich wirklich nur im äußersten Notfall entführen. Besser Davids Ehefrau. Oder war der Verlust der Großmutter genauso traumatisierend? Ein Geschwisterkind entführen? Nein, das hatte ich mit sieben auch erlebt, das zerstörte auch das Leben. Konnte man Menschen überhaupt entführen, ohne ihre Angehörigen zu traumatisieren? Vielleicht sollte ich Vivienne die Auswahl überlassen. Sie hatte hoffentlich eine Idee, wen ich am besten entführen konnte. Ohne lebenslange Traumata.
Also hatte ich einen neuen Punkt auf meiner To Do Liste. Nach Frankreich schleichen. Gut, dass ich den Geheimgang hatte. Mein Blick glitt zur Uhr. Es war gleich Zeit fürs Abendessen. Und Draco war bisher hier nicht aufgetaucht. Dabei hatte er doch eigentlich gesagt, er würde hierhin kommen, sobald der Unterricht vorbei war. Das war damit schon fast zwei Stunden her.
Ich stand von meinem Platz auf. Ich würde erst nach Draco gucken, dann nach Frankreich. Es konnte eh nicht schaden, heute sich mal irgendwann im Schloss zu zeigen. Ich wollte schließlich nicht, dass irgendjemand vergaß, dass ich noch da war. Vor allem nicht die Carrows.Ich stieg die Treppen zur Eingangshalle herauf. Von dort war schon lautes Stimmengewirr zu hören. Die ersten Schüler hatten sich wohl schon dort versammelt, sehr wahrscheinlich getrieben vom Hunger, um sich gleich aufs Essen stürzen zu können. Die Slytherins aus meinem Jahrgang konnte ich allerdings noch nicht in der Menge entdecken.
Ob sie sich noch irgendwo im Schloss herumtrieben? Oder hatte der Orden beschlossen, zum Gegenschlag auszuholen und nun die Kinder von Todessern zu schnappen? Wir nahmen ihnen ihre Liebsten und sie unsere? Allerdings würde das nicht wirklich zu den Ordensleuten passen. Außerdem, wo sollten sie ihre Opfer verstecken? Das ging höchstens bei Kira und die würde ihr sicheres Schloss niemals an Todesser verraten. Auch nicht an gefangene Todesser.
Die Türen zur großen Halle schwangen auf. Die Schüler begannen hereinzuströmen. Langsam aber sicher leerte sich die Eingangshalle wieder. Ich blieb bei den Treppen stehen. Es dauerte noch fast zehn Minuten, bis eine größere Gruppe Slytherins die Treppen zu den oberen Stockwerken herunterkam. Draco war bei ihnen, genauso wie Crabbe, Goyle und die meisten Mädchen aus meinen ehemaligen Schlafsaal. Allerdings waren auch ein paar der ZAG-Schülerinnen bei ihnen, unter anderem Astoria Greengras, Daphnes kleine Schwester.
Ich biss mir auf die Unterlippe. Das hatte Draco also davon abgehalten zu mir zu kommen. Er hatte die Zeit lieber mit den anderen Schülern verbracht. Mit seinen Freunden. Wirklich verdenken, wollte ich es ihm nicht. Er hatte keinen von ihnen den ganzen Sommer über gesehen. So komisch und manchmal auch toxisch die Freundschaft der Gruppe war, sie existierte. Draco konnte hier zu seinen Freunden zurückkehren. Das sollte ich ihm lassen.
Nur ich konnte es leider nicht. Ich würde wohl sehr viel Zeit alleine in meinem Apartment verbringen. Ein goldener Käfig für mich. Einer für mich alleine. Jetzt musste ich nur noch dafür sorgen, dass ich Draco nicht mit in den Käfig zog. Ohne meine Tarnung auffliegen zu lassen. Das hieß auch, erstmal würde ihn Tahnea für seine Verspätung eine runterhauen müssen.
Ich löste mich von meinem Platz. Es tat mir ja schon ein wenig leid, gleich eine Szene machen zu müssen, aber das gehörte wohl dazu. Das war der Preis für ein Sexleben mit einer Verrückten wie Tahnea.
„Draco", flötete ich und lief auf ihn zu. Die Schüler, die gerade noch in Richtung des Speisesaals gelaufen waren, blieben wir erstarrt stehen. Sie bewegten sich nur, um mir Platz zu machen.
„Basílissa. Du bist hier oben", kam es unsicher von dem Schüler.
„Ja, und jetzt gehen wir runter. Sofort." Ich sah ihn auffordernd an. Er nickte ergeben.
„Natürlich, Basílissa", murmelte Draco niedergeschlagen. Er drückte seine Schultasche Blaise in die Hand, dann kam er zu mir herübergetrottet. Beziehungsweise, er wollte es.
Astoria griff nach seinem Arm und hielt ihn damit auf. Als würde das noch nicht ausreichen, schob sie sich auch noch vor ihm.
„Wir wollten gerade zum Abendessen. Wir haben alle hunger, auch Draco. Ich bin mir sicher, danach kommt er gerne zu dir herunter."
Eins musste man der kleinen Greengras lassen. Anders als ihre große Schwester hatte sie wirklich Eier in der Hose. Sie traute sich, etwas gegen mich zu sagen. Und das war leider ein dummer Fehler. Denn damit würde ich ihr jetzt auch eine Lektion erteilen müssen. Niemand sagte etwas gegen Tahnea, ohne dafür in den Boden gestampft wurde.
„Wie bitte?", zischte ich.
„Draco wollte mir uns zum Abendessen gehen", wiederholte sie ihre Worte, dieses Mal allerdings wesentlich unsicherer.
„Er gehört mir, Greengras! Wenn ich sage, er geht herunter, dann tut er es auch. Und du stehst mir nicht im Weg." Ich griff nach meiner Magie. Mit einer einfachen Handbewegung ließ ich das Mädchen bei Seite fliegen. Ich achtete genau darauf, wo ich sie hinkatapultierte. Es sollte zwar spektakulär aussehen, aber ernsthaft verletzen wollte ich sie eigentlich nicht. Und was noch viel wichtiger war: Ich musste es auch nicht. Daher segelte die Fünftklässlerin nur ein paar Meter durch die Luft, bevor sie etwas unsanft wieder auf den Boden schlug. Sicherlich würde es ein paar blaue Flecken geben, aber eben auch nicht mehr.
Ohne noch ein weiteres Wort zu sagen, drehte ich mich um. Draco warf Astoria noch einen entschuldigenden Blick zu, bevor er mir hinterhergetrottet kam. Die aufmerksamen Blicke der anderen Schüler folgten uns. Erst als wir die Treppe so weit herunter waren, dass man uns nicht mehr sehen konnte, ging in der Eingangshalle wieder leises Gemurmel los.
Draco und ich hingegen redeten kein Wort miteinander. Wir liefen schweigend durch die Gänge. Erst als wird den Flur meines Apartments erreicht und die Eingangstür hinter uns zu war, fingen wir wieder an miteinander zu sprechen.
„Patricia, es –", setzte der Slytherin schon zu einer Entschuldigung an, weshalb ich leise seufzte.
„Bitte, entschuldige dich jetzt nicht dafür, dass du mit deinen Freunden unterwegs gewesen bist. Es ist dein gutes Recht. Ich war mir nur unsicher, warum du nicht wie abgesprochen gekommen bist. Ich konnte ja schlecht einfach wieder gehen."
„Ich hätte dich nicht einfach stehenlassen dürfen. Wir waren verabredet", gab er verunsichert zu.
Da hatte er allerdings recht. Wir waren verabredet gewesen. Er hätte sich wenigstens irgendwie abmelden können, damit ich mir keine Sorgen machen würde. Aber das hatte er nicht.
„Ich werde dich nicht davon abhalten, deine Freunde zu sehen, Draco. Deine Mutter wollte, dass Adina, Jamie und du hier zur Schule geht, damit ihr einen normaleren Alltag habt. Wir werden noch ein bisschen so tun müssen, als wären wir – was auch immer wir gerade sind. Ich werde aber immer mal wieder fallen lassen, dass du mich langweilst. In einem Monat brauchst du nicht mehr herkommen."
Ich wandte mich von Draco ab und lief in Richtung meines Esszimmers, damit er nicht meinen traurigen Gesichtsausdruck sehen würde. In einem Monat wäre ich alleine. Dann würde niemand mehr hier mit mir essen.
„Ich wollte dich eigentlich nicht sitzen lassen. Es war einfach nur – ich habe die anderen so lange nicht gesehen. Alle haben auf mich eingeredet, mit ihnen Hausaufgaben machen zu gehen. Ich habe einfach nicht richtig nachgedacht, als ich zu gestimmt habe."
„Es war mein Ernst, dass du dich nicht dafür entschuldigen musst. Es ist dein gutes Recht, etwas mit den anderen Slytherins machen zu wollen. Sage mir beim nächsten Mal einfach Bescheid und Sorge bitte dafür, dass Astoria sich mir nicht nochmal in den Weg stellt. Ich habe keine Lust, am Ende gegen sie vorgehen zu müssen. Mal abgesehen davon, sind die Todesser sicherlicher im allgemeinen nicht allzu freundlich, wenn man sich gegen sie stellt. Und das tut sie, wenn sie meine Autorität untergräbt."
Draco nickte ergeben, weshalb ich erleichtert aufatmete. Irgendwie würden wir dieses ganze Kuddelmuddel schon überstehen. Es lag laut der Prophezeiung kein Jahr mehr vor mir, dann wäre alles vorbei. So lange würde ich es notfalls auch alleine in diesem goldenen Käfig überstehen.
„Wir sollten jetzt Essen. Ich muss auch noch gleich nach Frankreich herüber. Ich brauche Hilfe bei der Auswahl der nächsten Opfer", erklärte ich.
„Willst du nicht morgen nach Frankreich apparieren und dafür jetzt gleich etwas Zeit mit mir verbringen? Auf die paar Stunden kommt es doch nicht an."
Ich wurde fast schon flehend angesehen. Ich seufzte leise. Eigentlich wollte ich das alles einfach hinter mir haben. Die Auswahl, die Entführung, die verbleibenden Tage meines Lebens. Aber auf der anderen Seite hatte Draco Recht. So dringend war es nicht. Es konnte durchaus noch etwas warten. Nicht mehr wochenlang, aber auf jeden Fall bis morgen früh. Außerdem hatte es den Vorteil, dass ich jetzt die Zeit mit Draco verbringen konnte und morgen früh hier nicht alleine zurückbleiben würde. Also wenige einsame Stunden für mich. Die anderen Familien blieben so wahrscheinlich auch etwas länger zusammen. Eigentlich eine Win-win-Situation.
„Ich appariere morgen nach Frankreich", gab ich nach.
DU LIEST GERADE
Hexagramm - Phönixruf
FanfictionDreizehn Nymphen, dreizehn Flüche. Sieben Horkruxe, drei zerstörte. Tahnea ist besiegt, Patricias Fluch ist gebrochen. Doch nun bleibt ihr nur kein Jahr, bevor sie stirbt. Kein Jahr, um die Vorgängernymphen und ihren Vater aus der Zwischenwelt zu be...