Kapitel 33

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Der Motor heulte auf, als ich erneut beschleunigte. In meinem Magen machte sich ein Kribbeln breit. Ich hatte ganz vergessen, wie es sich anfühlte, auf einem Motorrad zu sitzen. Der Fahrtwind, das Legen in die Kurven und das Beschleunigen. Es war einfach eine wunderbare Mischung. Nur ich, die Maschine und die Landschaft um mich herum. Felder, soweit das Auge reichte, und vor allem keine Menschenseele. Vielleicht sollte ich – nur für den Fall, dass ich doch irgendwie überlebte und nicht nach Askaban kam – doch einfach auf alle scheißen, mein Motorrad schnappen und einfach fahren. Bis zum Meer und noch viel weiter. Bis zu einem Ort, der mich zum bleiben einlud. Vielleicht nur für eine gewisse Zeit, vielleicht auch für immer.
Ich schob den Gedanken bei Seite. Für Tagträumereien von einer Zukunft, die eh niemals existieren würde, hatte ich keine Zeit. Wenn man genau hinsah, konnte man am Horizont schon schwarze Flecken erkennen, die mit etwas mehr Nähe zu Häusern werden würden. Das kleine Dörfchen Bibury. Der Ort, wo ich das aktuelle Hauptquartier der MACUSA in England finden würde.
Auf diesen Besuch sollte ich mich konzentrieren. Ich hatte schließlich keine Ahnung, was mich dort genau erwarten würde. Ich wusste nicht einmal, wo ich dort genau die Da Finnlay mich dorthin geschickt hatte, um die Akten zu lesen, ging ich sehr stark davon aus, man würde mich nicht sofort über den Haufen Zaubern wollen, aber mit einem warmen Empfang rechnete ich auch nicht. Wenn ich Pech hatte, dachte man allerdings, ich hätte den Auror entführt und würde nun auch sie angreifen.
Ich seufzte leise. Dieses ganze Doppelagentending war einfach nur anstrengend und nervenzerreibend. Ich war froh, wenn ich es endlich hinter mir hatte. Und die anderen wären es definitiv auch. Adinas Augenringe waren schon lange so dick, dass man sie nicht mehr ganz überschminken konnte.
Ich erreichte die ersten Häuser des Dorfes. Tatsächlich waren sie alle aus braunen Backstein erbaut worden. Bei vielen konnte man von diesem allerdings nur noch wenig erkennen. Efeu hatte sich teilweise an den Hauswänden hochgekämpft und tauchte alles in ein schönes Grün. Auch die ersten Frühlingsblumen hatten sich schon an die Oberfläche gekämpft und bildeten Farbkleckse am Straßenrand. In einem Monat wäre das hier sicherlich ein wunderschönes Dorf, in welchem man das Gefühl bekam, auf dieser Welt gab es nichts Böses.
Ich fuhr nun etwas langsamer durch die wenigen Straßen der kleinen Siedlung. Teilweise lugten die Leute neugierig aus dem Fenster, um zu sehen, wer gerade die Mittagsruhe des Ortes störte.
Noch zwei weitere Kurven, dann war ich auch schon an meinem Ziel angekommen. Die St. Marys Church. Ich stellte mein Motorrad auf dem dazugehörigen Parkplatz ab – wenn man die kleine Asphaltfläche so nennen wollte – und sah dann zu dem ebenfalls braunen Backsteingebäude herüber.
Die Kirche lag nicht genau an der Straße. Tatsächlich konnte man sie leicht übersehen, weil zwei im rechten Winkel zueinander angeordnete Wohnhäuser den Blick auf sie versperrten. Durch ein Gartentor kam man zwischen den beiden her und auf das Gelände der Kirche. Bäume und alte verwitterte Grabsteine zierten die Rasenfläche neben dem Plattenweg zum eigentlichen Gebäude.
In dem von mir aus linken Wohnhaus war gerade eine Frau in der Küche am Kochen und beobachtete nun neugierig meine Ankunft. Vermutlich war es das Interessanteste, was man hier sehen konnte. Oder sie gehörte zur MACUSA und würde gleich ihren Chefs von meiner Ankunft erzählen. Das würde wenigstens das Auffinden der Amerikaner erleichtern.
Solange ich allerdings keine besseren Anhaltspunkte hatte, würde ich einfach erstmal das Gelände der Kirche betreten. Diese Adresse hatte mir Finn schließlich gesagt. Wenn eines der Wohnhäuser relevant wäre, hätte er mir wohl von diesem die Adresse genannt. Allerdings blieb natürlich seine komische Formulierung: Bei der St. Marys Church.
Ich nahm meinen Motorradhelm ab. Dadurch sah man allerdings noch immer nicht mein Gesicht. Heute hatte ich zwar meinen weißen Umhang zu Hause gelassen, allerdings hatte ich es mir nicht nehmen lassen, meine Haare blond zu Zaubern, einen Kapuzenpullover anzuziehen und mir ein Halstuch über die Mund- und Nasenpartie zu binden.
Zwar ließ der dunkle Lord noch immer Finnlay foltern, um das Hauptquartier der MACUSA zu finden, allerdings wollte ich trotzdem lieber vom schlimmsten ausgehen. Wenn hier irgendwo ein englischer Zauberer auf der lauer lag, sollte dieser besser nicht erfahren, dass Patricia Primrose Black hier war.
Die Frau am Fenster verengte ihre Augen. Vermutlich wirkte ich so verschleiert nicht gerade vertrauenserweckend. Ich ließ mich davon nicht beirren. Ich wank ihr fröhlich zu, als wäre dieser Auftritt vollkommen normal. Sie erwiderte sichtlich überfordert meine Geste. Als nächstes Schloss ich den Helm unter dem Sitz ein, bevor ich mich auf dem Weg zu Kirche machte. Dabei machte ich Anstalten, nun mein Halstuch im laufen abmachen zu wollen. Die Frau schien sich aufgrund der Geste zu entspannen.
Kaum war ich aus ihrem Blickfeld verschwunden, ließ ich meine Scharade auch wieder sein. Stattdessen lief ich zu den verwitterten Grabsteinen. Vielleicht fand sich ja hier irgendwo ein Hinweis auf die MACUSA.
Tatsächlich brachten mich die Inschriften nicht wirklich weiter. Unbekannte Namen, nichtssagende Daten. Ich seufzte leise. Irgendwie hatte ich es mir etwas leichter vorgestellt. Finnlay hätte wirklich eine bessere Ortsbeschreibung abgeben können. Vielleicht überinterpretierte ich allerdings auch gerade seine Worte und ich würde doch in der Kirche meine Antworten finden. Ich schlenderte langsam in Richtung der Kirchentür, während ich weiterhin aufmerksam meine Umgebung im Auge behielt.
Gerade als ich auf die Tür zusteuerte, sah ich eine Bewegung links von mir. Ich wirbelte herum, weshalb ich nun einen Priester sah, der in Ruhe um die Ecke bog. Ob er wohl in letzter Zeit komische Menschen auf dem Gelände gesehen hatte? Oder wusste er sogar von der MACUSA, welche sich hier niedergelassen hatte?
„Kann ich ihnen weiterhelfen?", wurde ich freundlich gefragt.
Ich zögerte kurz. Vermutlich wusste der Kerl von gar nichts. Wenn ich jetzt mit Finnlay ankam, würde das sicherlich ziemlich komisch wirken. Auf der anderen Seite: Ich stand hier noch immer maskiert. Noch komischer konnte ich wohl kaum herüberkommen.
„Finnlay Bucket hat mich hierher geschickt", stellte ich daher trocken fest.
Die Muskeln des fremden Mannes spannten sich an. Er kannte den Namen und seinem misstrauischen Blick nach zu urteilen, gefiel es ihm gar nicht, dass ich ihn kannte. Ich überlegte, ob ich noch etwas sagen sollte, um sein Vertrauen zu gewinnen, allerdings wusste ich nicht was.
„Folgen sie mir", forderte mich der Mann sehr zu meiner Verwunderung auf, ohne dass ich noch mehr gesagt hatte. Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte der Mann sich auch schon wieder um. Er lief erneut um die Ecke, um welche er noch gerade gekommen war.
Etwas verunsichert von dieser Reaktion, ließ ich ein Messer in meine Hand gleiten. Mir gefiel die Situation hier nicht so ganz. Anscheinend wusste der Typ, wer Finnlay Bucket war. Ich rechnete allerdings nicht damit, so leicht zu der MACUSA geführt zu werden. Jedenfalls nicht in ihr Versteck. Eher in einen ziemlich miesen Hinterhalt.
Der Mann führte mich erneut an einem Haufen alter verwitterter Grabsteine vorbei. Erneut musterte ich die Namen und Daten auf ihnen. Vielleicht gab es ja doch irgendeinen Hinweis auf das richtige Versteck der MACUSA.
Wir entfernten uns immer weiter von der Kirche und drangen immer weiter auf den Friedhof fort, bis man aufgrund der vereinzelnd herumstehenden Bäume das Gebäude kaum noch erkennen konnte. Man musste die Backsteine eher erahnen als sehen. Dafür sah man nun vor uns einen kleinen mit Hecken umrandeten Platz. Ein Springbrunnen mit einer Adlerfigur stand in der Mitte und mehrere Bänke luden zum bleiben ein. Auf einer saß eine Frau, um die fünfzig Jahre alt und las in einer Zeitung. Obwohl nicht irgendeiner Zeitung, sondern dem aktuellen Tagespropheten.
Sofort spannten sich meine Muskeln an, während der Griff um mein Messer noch ein wenig fester wurde. Diese Frau war definitiv eine Hexe und angesichts ihres Aufenthaltsortes wohl auch ein Mitglied der MACUSA.
„Mrs Hudson, sie haben Besuch", erklärte der Priester ruhig.
„Das sehe ich. Danke fürs herbringen." Die Frau faltete die Zeitung wieder beisammen. Der Priester nickte ihr kurz zu, bevor er wieder in Richtung der Kirche davonlief. Ich blieb an Ort und Stelle, stehen, verschränkte meine Arme und musterte meine neue Gesprächspartnerin. Wirklich etwas Interessantes gab es allerdings nicht zu sehen. Sie wirkte relativ entspannt und schien eher auf mein Urteil zu warten.
„Finnlay Bucket schickt mich", brach ich schließlich das Schweigen zwischen uns. „Falls sie es noch nicht mitbekommen haben: Er genießt zur Zeit die Gastfreundschaft der Malfoys."
„Mir ist bekannt, wo sich meine Auroren aufhalten. Bedauerlich, dass wir Mr Bucket verloren haben. Er wurde wirklich hervorragend ausgebildet. Ihre Familie hat dabei sehr gute Arbeit geleistet."
Ich gab ein leises Knurren von mir. Ich wusste nicht genau warum. Entweder weil sie so von Finnlay sprach, als wäre er Tod, oder weil sie erwähnte, dass er von meiner Familie ausgebildet wurde. Das hieß auch, sie wusste genau, wer sich unter der Kapuze versteckte. Wie viel hatte Azura bitte mit den amerikanischen Auroren geteilt?
„Wir haben uns schon gefragt, wann sie hier auftauchen. Wir hatten gehofft, unsere Zusammenarbeit nun offiziell fortsetzen zu können. Da wir alle auf das gleiche Ziel hinarbeiten, sollte dies doch in ihrem Interesse sein."
„Ich bin hier, um die Akten über mich zu sehen. Nicht, um ihre Freundin zu werden."
Mrs Hudson schüttelte amüsiert den Kopf. Ich hatte eigentlich eher damit gerechnet, dass sie wütend aufgrund meiner Forderung werden würde. Eine dicke Akte, die alles beinhaltete, was die MACUSA über mich wusste. Ein wertvolles Stück Papier, vor allem falls ich mich doch irgendwann einmal gegen die Amerikaner stellen sollte. Und ich forderte sie einfach, als würde ich um den Tagespropheten bitten.
„Solche Akten geben wir normalerweise nicht heraus. Schon gar nicht an Menschen, die nicht auf unserer Seite stehen wollen."
„Dann haben wir wohl eine klassische Pattsituation. Ich bin nicht bereit mit jemanden zusammenzuarbeiten, der Informationen über mich zurückhält. Und sie werden mir keine Informationen geben, wenn ich ihnen nicht meine Hand reiche."
Mein Ausflug hierhin war also vollkommen sinnlos gewesen. Ich hätte mir den Weg und das Risiko sparen können. Ich würde die Akten nicht bekommen, um so vielleicht Frieden mit Finnlays und meiner Situation zu schließen. Vielleicht hätte ich einfach das Gelände ausspionieren und die Akten klauen sollen.
„Wie wäre es, wenn wir diese Pattsituation mit einem Kompromiss lösen. Sie dürfen die Akten einsehen, wenn wir weiterhin Informationen über den dunklen Lord erhalten. Und vielleicht sehen sie ja noch ein, dass wir ihnen bei ihrer Mission behilflich sein können."
Ich verdrehte die Augen. Ich würde nicht irgendwelchen Unbekannten Informationen über meine Mission auf die Nase binden. Nicht heute und niemals. Ich hatte nicht einmal meiner eigenen Familie und die anderen Nymphen eingeweiht. Einer Frau, die ich auf irgendeiner Bank saß und Zeitung las, würde ich sicherlich nichts auf die Nase binden.
„Ich werde sie informieren, so wie es Azura getan hat. Nicht mehr und nicht weniger. Dafür zeigen sie mir die Akten und informieren mich, falls sie irgendwelche Dinge vorhaben. Ich will nämlich nicht, dass sie mir im Weg stehen", forderte ich von der Frau.
„Ich zeige ihnen dafür die Akten. Wenn sie wollen, dass wir ihnen nicht im Weg stehen, werden sie mit uns zusammenarbeiten müssen."
Ich zuckte mit den Schultern. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass diese Mrs Hudson bereit wäre, mir so weit entgegenzukommen. Ich fand es schon sehr verwunderlich, dass sie mir sämtliche Akten über mich zeigen wollte.
„Dann fangen wir doch unsere bröckelige Partnerschaft damit an, dass sie mir die Akten zeigen", schlug ich vor.
Auf dem Gesicht der Frau erschien ein breites zufriedenes Lächeln. Eine Tatsache, die mich irgendwie beunruhigte. Auch wenn Finnlay mich hierhin geschickt hatte, war ich mir gerade nicht sicher, ob ich das Richtige tat. Vor ein paar Monaten wollten diese Leute mich noch umbringen und jetzt ging ich diese wackelige Verbindung mit ihnen ein.
„Folgen sie mir", wurde ich aufgefordert.

Hexagramm - PhönixrufWo Geschichten leben. Entdecke jetzt