Ich sah von der Tür aus dabei zu, wie Samuel auf zwei Krücken abgestützt mühevoll einen Schritt nach den anderen durch sein Zimmer machte. Auch wenn er seine Beine wieder spürte und bewegen konnte, war Laufen noch ein schwieriges Thema. Mal abgesehen davon, dass die Beinmuskulatur des Mannes abgebaut hatte, wirkte es ein wenig so, als hätte er vergessen, wie man läuft. Sein Körpergewicht hielt er vor allem mit den Armen und die Bewegungen der Beine wirkten einfach nur ungelenk.
Wenn man bedachte, dass er gerade einmal sechzehn Tage hier war und erst seit elf Tagen von Jessica die Erlaubnis hatte, die Beine zu belasten, war es vermutlich gar nicht mal so schlecht. Bei seinen ersten Versuch, aufzustehen, hatte er es kaum geschafft, die Beine zur Bettkante zu bewegen.
Andromeda saß auf dem Sofa und beobachtete die Prozedur ebenfalls mit Adleraugen. Sie wirkte dabei ein wenig angespannt, fast als würde sie glauben, gleich aufspringen zu müssen, um den Mann zu retten. Unbegründet war diese Sorge nicht, wenn ich mir die wackeligen Schritte ansah.
Vorsichtig machte der Mann einen weiteren Schritt und kam somit seinen Rollstuhl wieder etwas näher. Noch zwei Weitere, dann war er dort. Dann musste er sich nur noch umdrehen und hereinfallen lassen.
„Andromeda, bringe mir bitte den Rollstuhl", wurde ich in diesem Moment gegeben.
So viel zu den nächsten zwei Schritten. Damit hatte er heute gerade einmal elf geschafft. Gut, gestern waren es noch zehn, aber wirklich überzeugend war es bisher trotzdem nicht. Diese Gedanken sprach ich allerdings nicht laut aus. Ich war mir noch nicht einmal sicher, ob die beiden Erwachsenen mich bisher bemerkt hatten, und mit diesen Worten würde ich sicherlicher nicht die Aufmerksamkeit auf mich lenken. Die Beziehung gerade zu Samuel war eh schon angespannt genug, auch ohne solche frechen Sprüche. Man merkte zwar, dass er gerne über meine Taten unter dem Fluch hinwegsehen wollte, doch so ganz schaffte er es nicht. Kein Wunder, wenn man bedachte, dass ich seine Freundin den Todessern überlassen hatte, damit sie umgebracht werden kann. Und dass er nun zu meinen Geiseln in Deutschland gehörte, war vermutlich auch nicht hilfreich.
Andromeda beeilte sich, den Rollstuhl so zu platzieren, dass sich Samuel hereinsetzen konnte. Dabei sah sie auch mich, noch immer in der Tür stehend. Sie schenkte mir ein freundliches Lächeln, kommentierte meine Anwesenheit allerdings nicht.
Samuel ließ sich in den Stuhl fallen, sobald es ging. Schweiz stand auf seiner Stirn, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Jetzt gerade wirkte er einfach nur erschöpft und dadurch noch einmal Jahre älter.
„Machst du Fortschritte?", fragte ich vorsichtig nach, auch wenn ich die Antwort kannte.
Samuel wirbelte erschrocken zu mir herum, weshalb Andromeda ihn beruhigend eine Hand auf die Schulter legte. Ich biss mir beschämt auf die Unterlippe. Ich sollte vielleicht mehr stampfend durch das Schloss hier laufen, damit die Leute mich bemerkten.
„Ich lerne gerade neu laufen, Patricia. Das dauert seine Zeit. Ich frage mich, warum sich Babys das antun." Mal wieder versuchte der Mann, es freundlich zu sagen, doch den harten Unterton bekam er nicht aus seiner Antwort verbannt.
„Aus dem gleichen Grund, aus dem du es tust, denke ich. Laufen vereinfacht das Leben", antwortete ich trotzdem, als wäre nichts gewesen.
Samuel musste aufgrund meines Kommentares Lachen. Anscheinend hatte ich mal wieder etwas furchtbar Witziges gesagt, ohne es gemerkt zu haben. Ich rang mich zur einem schiefen und vermutlich verunsicherten Lächeln durch, während ich fieberhaft darüber nachdachte, wie ich aus dieser Situation wieder herauskam.
„Und genauso wie es bisher jedes Baby geschafft hat, Laufen zu lernen, wirst du es auch wieder lernen. Mit genügend Zeit und Geduld. Und wir werden dich unterstützen." Andromeda schenkte dem Mann ein so optimistisches Lächeln, dass man gar nicht anders als zustimmen konnte. Er würde wieder normal laufen. Nur nicht in naher Zukunft.
„Aber nicht mehr heute. Ich muss zurück nach Hogwarts." Ich drehte mich auf dem Absatz um.
Finnlay hatte mich dazu überredet, hier regelmäßig aufzutauchen, um zu sehen, ob hier alles gut lief. Also kam ich jetzt wieder alle paar Tage vorbei, drehte eine Runde durchs Schloss, um zur Kenntnis zur nehmen, dass alle noch hier waren, nur um dass möglichst schnell wieder abzutauchen.
Ich hatte wirklich anderes zu tun, als ständig hier meine Zeit zu verbringen. Aktuell plante ich vor allem, wie Adina nach meinen Ableben ohne mich weiter machen konnte. Wenn es in zwei Tagen mit mir zu Ende war und wir nicht aufflogen, würde sie genaue Anweisungen haben, wie sie unsere Mission zu Ende bringen konnte. Auch ohne mich.
Eigentlich hoffte ich allerdings immer noch, dass Harry mal in die Gänge kam, in Gringotts einbrach und danach freiwillig nach Hogwarts kam. Oder er gefangen wurde. Hauptsache wir konnten den Zauber endlich sprechen. Ich wollte möglichst Aufgaben den anderen überlassen, wenn es mit mir zu Ende ging.
„Patricia, bleib doch noch ein wenig", rief mir Andromeda hinterher.
„Ich habe keine Zeit", erklärte ich bestimmt. Und das war nicht einmal eine Lüge. Adina würde in einer halben Stunde vor der Tür stehen, heute ausnahmsweise mal für einen gemeinsamen Filmabend. Sie hatte darauf bestanden, auch wenn ich den Abend eigentlich weiter für ihre Vorbereitung nutzen wollte. Aber dafür würde sie am nächsten Tag den Unterricht schwänzen, damit ich sie auf mein Ableben vorbereiten konnte.
Andromeda schien sich mit dieser Antwort allerdings nicht zufrieden geben zu wollen. Ich hörte ihre Schritte, die mir eilig nachkamen. Also blieb ich im Flur stehen und verschränkte meine Arme. Ich würde mich nicht davon abbringen lassen, gleich zu der Wassernymphe zu apparieren.
„Wir wollen dir nichts Böses, Patricia", stellte die Cousine meines Vaters mit einem Blick zu meinen Armen fest. „Ich weiß, die Beziehung von Samuel und dir ist aktuell sehr angespannt. Sie wird aber nicht besser werden, solange du uns alle hier meidest. Du musst nicht immer sofort wieder weglaufen, wenn du dich davon überzeugt hast, dass alle noch brav hier sind."
Ich schnaubte leise. Damit hatte sie einen Grund für meine schnelle Flucht von hier schon mal richtig erkannt. Die schlechte Beziehung zu den anderen Bewohnern half auch nicht unbedingt dabei, dass ich bleiben wollte. Das alles würde ich allerdings sicherlich nicht zugeben.
„Ich habe wirklich zu tun, Andromeda. Ich bereite Adina auf eine Mission vor." Beinahe wäre mir noch herausgerutscht, dass nun mal nicht jeder den ganzen Tag nur gelangweilt in einem Schloss saß. Zum Glück konnte ich die Worte allerdings noch zurückhalten.
„Adina soll eine Mission übernehmen?", fragte die Frau skeptisch. Verständlicherweise. In dem letzten Jahr war das nie eine Option gewesen. Die Wassernymphe hatte einfach nicht die richtige Mentalität, um mit ihr bei Leuten einzubrechen. Sie vermiet Kämpfe, also würde sie auch niemals meinen weißen Umhang übernehmen.
„Ja, soll sie."
„Denkst du, sie ist dafür bereit?", wurde skeptisch nachgehakt.
„Nein, deshalb bereite ich sie ja vor. Damit sie so weit ist, wenn –" Ich stockte kurz. Der ehrliche Satz wäre, wenn ich tot bin. Doch das würde ich nicht gegenüber Andromeda aussprechen. Am Ende würde sie mich noch hierbehalten wollen. „– es notwendig wird."
„Du hörst dich nicht so überzeugt von der Sache an."
„Mir wäre es lieber, wenn Harry endlich auftaucht und Adinas Mission deshalb unnötig wird. Aber falls er es in den nächsten Tagen nicht tut, ist sie vorbereitet."
„Wann wird ihre Mission stattfinden?"
„Übermorgen."
„Dann hast du Zeit, an deinem Geburtstag mit uns zu feiern. Komm vorbei, um mit uns Kuchen zu essen. Versprich mir das."
„Ich schaue, wie ich den Tag geplant kriege, damit ich eine Stunde vorbeikommen kann", gab ich als unverbindliche Antwort von mir.
Andromeda schien es allerdings zu reichen. Sie nickte zufrieden, bevor sie mich zögerlich in eine Umarmung zog.
„Es wird alles gut werden", wurde mir versichert, weshalb ich bestimmt nickte. Ja, das würde es. Wir würden die Prophezeiung erfüllen und die Generation vor uns zurückholen. Wir würden gewinnen und ich würde sterben.
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Hexagramm - Phönixruf
FanfictionDreizehn Nymphen, dreizehn Flüche. Sieben Horkruxe, drei zerstörte. Tahnea ist besiegt, Patricias Fluch ist gebrochen. Doch nun bleibt ihr nur kein Jahr, bevor sie stirbt. Kein Jahr, um die Vorgängernymphen und ihren Vater aus der Zwischenwelt zu be...