Etwas unschlüssig stand ich vor meinem Kleiderschrank. Auch wenn ich mir normalerweise nicht so viele Gedanken über meine Kleiderwahl machte, konnte ich mich heute nicht entscheiden. Was zog man zu Weihnachten mit den Großeltern an? Vor allem weil eh schon etwas dicke Luft vorhanden war, wollte ich nichts Falsches auswählen. Alles womit ich die Wogen glätten konnte, würde ich heute machen. Damit niemand auf die Idee kam, mir am Ende vorzuwerfen, ich hätte mich nicht bemüht.
Etwas unschlüssig zog ich einen schwarzen Wollpullover heraus. Aber zog man die Farbe nicht eher auf einer Beerdigung an? Das Kleidungsstück landete wieder im Kleiderschrank. Vielleicht ein Kleid? Aber von denen besaß ich so wenige. Nur das Kleid vom Ball, welches sicherlich unpassend war, und das, welches mir Adina im dritten Schuljahr geschenkt hatte. Ob das wohl noch passte? Ich hatte es schon ewig nicht mehr angehabt.
Ich zog es heraus und dann über den Kopf. Tatsächlich passte ich noch herein, auch wenn nicht mehr so gut wie damals. Es spannte etwas an der Brust und an meinen Armen. Es endete auch gut zehn Zentimeter höher als früher. Ich seufzte leise. Das gehörte wohl in die Altkleidersammlung. Also brauchte ich wohl einen Plan B.
Ich begann mir die Haare zu raufen. Mein ganzer Kleiderschrank bestand eigentlich aus funktionalen Klamotten. Gemütlich, aber trotzdem in der Lage, Flüche abzuwehren. Wirklich schick war gar nichts. Einfache Hosen und Oberteile. In der Regel alles einfarbig, eventuell auch mal mit irgendwelchen aufdrucken, aber bei allen hatte ich Adinas Stimme im Kopf, die mir erklärte, für den Anlass wäre meine Kleidung unangemessen. Meinen Koffer für Natasha und meinen Urlaub in New York zu packen, war viel einfacher gewesen. Da waren meine funktionalen Klamotten für vollkommen in Ordnung gewesen.
Es klopfte an meiner Schlafzimmertür, weshalb ich erschrocken zusammenzuckte. Dann sah ich zur Uhr. Wir wollten eigentlich in fünf Minuten los. Und ich hatte mich immer noch nicht angezogen. Was war schlimmer. Die falsche Kleidung oder zu spät zu kommen?
„Welpe?", hörte ich Marlon rufen. „Hast du die Uhr im Blick?"
„Ja, habe ich. Aber nichts zum Anziehen", beschwerte ich mich. Als Antwort bekam ich erstmal ein lautes Lachen. Ich sah noch einmal wütend in mein Kleiderschrank, bevor ich zur Tür lief. Diese riss ich auf.
„Hilf mir", bat ich den Mann, welcher mich belustigt ansah. „Ich will nicht schon mit meiner Kleidung in ein Fettnäpfchen treten. Aber ich habe nichts zum Anziehen. Warum habt ihr mir nie etwas für komische Weihnachtsfeiern mit Fast-Adoptivgroßeltern aufgedrängt?", jaulte ich.
„Frage mal bei Ari nach einem Kleid", wurde mir von Marlon geraten. „Die hat ein paar davon und die passen bestimmt besser als das alte Teil. In den letzten Jahren bist du doch noch mal ein paar Zentimeter gewachsen."
Ich gab ein leises Brummen von mir. Da hatte mein Onkel-Vater leider zu hundert Prozent recht.Das alte Bauernhaus von meinen Großeltern war für Weihnachten geschmückt worden. Mit viel Mühe waren in den Bäumen drum herum und an dem Zaun der Veranda Lichterketten angebracht worden. In den Fenstern hatte man Sterne geklebt, ein Haufen Schneemänner waren liebevoll gebaut und mit Weihnachtsmützen versehen worden. Also falls irgendjemand für Weihnachtswerbung eine Kulisse suchte, das hier war die perfekte Gelegenheit.
„Deine Großeltern mögen dieses fest wohl lieber als du", stellte Marlon fest, während er sich umsah.
Ich gab ein leises Brummen von mir. Zu dieser Erkenntnis war ich auch schon gekommen. Ich wusste nur nicht, wie ich mit ihr umgehen sollte. Durfte ich fliehen, wenn man mich dazu animieren wollte, Weihnachtslieder zu singen?
„Wir kriegen das schon hin", wurde mir von meinem Onkel-Vater versprochen. Ich brummte leise. Was war ich froh, dass man nicht nur mich, sondern auch ihn zu dieser Veranstaltung eingeladen hatte. Alleine wäre ich wahrscheinlich schon beim Anblick des Hauses geflohen.
Ganz automatisch griff ich nach Marlons Hand, während wir zusammen zur Haustür liefen. Es dauerte nicht lange, bis diese nach unserem Klingeln von Tante Louise geöffnet wurde.
„Patricia!", rief die Frau erfreut und zog mich in eine Umarmung. Ich ließ es einfach überfordert geschehen. Weder erwiderte ich die Geste, noch wehrte ich mich dagegen. „Wir sind so froh, dass du gekommen bist. Natasha, Caleb und Michael sind auch schon da."
Ich wurde wieder losgelassen, weshalb ich lieber wieder einen Schritt zurückmachte. Sicherheitsabstand zwischen mir und meiner Tante kam mir gerade wie eine gute Idee vor. Nicht, dass sie mich jetzt ständig umarmen wollte.
Die Anmerkung, dass mir klar war, dass die drei Personen schon hier waren, weil der Mietwagen von Natashas Vater und Calebs Wagen vor der Tür standen, schluckte ich herunter. Das würde uns sowieso nicht weiterbringen.
„Marlon", wurde nun mein Onkel-Vater begrüßt.
„Es freut mich, dich wiederzusehen, Louise", kam die charmante Antwort von ihm, die er auch noch mit einem Handkuss abrundete. Manchmal fragte ich mich wirklich, wie es mein Onkel geschafft hatte, sowohl mit Yasmine als auch mit Maélys eine Beziehung zu führen. Mir würde ein solches Verhalten bei meinem Partner furchtbar gegen den Strich gehen. Doch er fand es immer so selbstverständlich wie Atmen.
„Kommt erstmal herein. Draußen ist es kalt." Die Frau trat bei Seite, sodass wir in die untere Etage des Bauernhauses treten konnten. Im Wohnzimmer hörte man schon die Kinder von Louise glücklich quietschen und schreien.
Wir zogen die vom Schnee nassen Schuhe und Jacken aus, bevor wir in den Raum gingen, in welchem schon alle anderen warteten. Die beiden kleinen Kinder waren ganz in ein Brettspiel mit ihrem Vater vertieft.
Natasha saß mit ihrem Freund und unseren Großeltern – sowohl die von Caitlin als auch die von Jayden Howarth Seite – auf den Sofas und Sesseln vor dem Kamin verteilt. In einer Ecke ungefähr drei Meter vom Kamin entfernt stand der Weihnachtsbaum, unter welchem ein Haufen Geschenke lagen. Am Kamin hingen vier Socken. Zwei davon erkannte ich als die wieder, in welchen Natashas und meine Geschenke versteckt waren, als wir damals bei den Howarth gewohnt hatten.
Ich steuerte zielsicher auf meine kleine Schwester zu. Als Erstes würde ich mit dem Geburtstagskind anfangen. Danach mit ihrem Vater und Freund und zuletzt würde ich mich zu unseren Großeltern vortasten. Von den leichteren Begrüßungen bis zu den schwierigen.
„Hallo Geburtstagskind", begrüßte ich meine kleine Schwester und hielt ihr ein Päckchen mit ihrem Geschenk hin. Dieses nahm sie entgegen, legte es aber erstmal bei Seite.
„Kein Gepäck dabei, Patricia?", fragte sie mich und betrachtete mich dabei etwas misstrauisch.
„Doch, nur verkleinert und in der Jackentasche. Ich habe versprochen, wir verbringen die Ferien in New York. Ich würde dich nicht heute stehen lassen, wo wir um neun in den Flieger steigen wollen."
„Sie hat vorgestern darüber nachgedacht. Aber gestern und heute war die Sache gegessen", petzte Marlon, weshalb ich empört angesehen wurde.
Ich begann auf meiner Unterlippe herum zu beißen. Ja, ich hatte darüber nachgedacht, nachdem Marlons biologischer Halbbruder vom Hof gefahren war. Ich hatte ihn einfach mit der Situation nicht alleine lassen wollen. Außerdem hätte es den Vorteil gehabt, dass ich mich hätte heimlich mit Draco treffen konnte, der ziemlichen Respekt vor den Weihnachtsferien mit Voldemort im Malfoy Manor hatte. Verständlich. Ich konnte mir auch nur besseres Vorstellen, als das Weihnachtsfest mit der Hades Nymphe zu verbringen. Eine schöne familiäre Stimmung würde sicherlich nicht aufkommen.
Aber es hatte den Vorteil, dass die beiden Malfoy Geschwister für mich nach dem Ring Ausschau halten. Ich hoffte ein wenig, wenn ich nicht dort war, wäre die Hades Nymphe ein wenig vorsichtiger. Vielleicht trug er ihn ja, oder die Narzissa hatte ihn mal beim Saubermachen der Zimmer gesehen.
„Nur wegen Draco und Marlons Halbbruder", gab ich beschämt zu. „Und als Marlon gesagt hat, er würde mich nicht brauchen, habe ich das Thema auch nicht mehr angeschnitten."
„Dein Halbbruder?", kam es verwirrt von Natasha biologischen Vater Michael.
„Der Biologische, ja. Der ist in einem Alter, in dem man der Meinung ist Familie bestimmt sich durch Blut, also musste er mich suchen gehen. Er stand vorgestern bei uns vor der Tür."
„Wusstest du, dass du einen Halbbruder hast?", hakte der Mann weiter nach. Wahrscheinlich war er verwirrt, dass Marlon nicht vollkommen durchdrehte.
„Ja, ich habe vor zwanzig Jahren mal nach meiner biologischen Familie gesucht. Dabei habe ich herausgefunden, dass meine biologische Mutter geheiratet und einen zweiten Sohn gekriegt hat."
„Hast du dich über seinen Besuch gefreut?"
„Nicht wirklich, nein. Menschen sind anstrengend, wenn sie meinen, die gleichen Vorfahren würden zu einer magischen Verbindung führen. Vielleicht treffe ich mich noch mal mit ihm, wenn er eingesehen hat, dass ich nicht sein Bruder bin."
Natasha warf mich mir einen verwirrten Blick zu. Sie erinnerte sich wohl daran, dass mein Onkel-Vater ein Verfechter davon war, dass wir beide Kontakt zu unserer leiblichen Familie hatten. Dazu stand es im absoluten Widerspruch, dass er nun keinen Kontakt zu seinem Halbbruder haben wollte. Aber ich hatte mich noch nicht getraut, deshalb mal etwas genauer nachzufragen.
„Warum sollten Patricia und ich dann Kontakt zu unserer biologischen Familie aufnehmen?", beschwerte sich Natasha.
Wenigstens war ich heute mal nicht diejenige, die mit ihren unbedachten Beschwerden die Leute im Raum verletzte. Jedenfalls verzog Michael leicht das Gesicht, fast als hätte man ihn geschlagen. Hatte man auch, jedenfalls verbal.
„Weil ich eurer leiblichen Familie auf die Füße treten konnte, um sie in die richtige Bahn zu lenken. Die Person fehlt bei Léo und mir. Ich habe ihm gesagt, er darf sich melden, wenn er nicht mehr glaubt, wir seien Geschwister. Jetzt entschuldige dich bei Michael, weil du unhöflich warst, Natasha."
Meine kleine Schwester lief rot an. Normalerweise wurden mir halt solche Dinge gesagt und nicht ihr. Sie war irgendwie wesentlich feinfühliger als ich geworden.
„Ich bin froh, dass wir Kontakt zueinander haben. Ich finde nur, für alle Waisen hier im Raum sollten die gleichen Regeln gelten. Wenn Marlon Patricia und mich nötig, haben wir auch das Recht, ihn zu nötigen."
„Ich weiß, du meintest es nicht böse. Mache dir um mich keine Sorge. Ich gehe davon aus, wenn du keine Lust mehr auf mich hast, werde ich das schon merken."
Damit hatte Michael sehr wahrscheinlich recht. Natasha würde es bestimmt deutlich machen, wenn sie keine Lust mehr auf ihren Vater hatte. Sie war vielleicht feinfühliger als ich, aber das hieß nicht, dass sie weniger direkt war.
„Patricia", wurde ich in diesem Moment von Mamas Mutter angesprochen. „Würdest du vielleicht mit deinem Großvater und mir kurz in der Küche sprechen?"
Ich biss mir auf die Unterlippe. Ob das jetzt kurz werden würde, daran hatte ich Zweifel. Schließlich hatten wir bisher uns nicht wirklich ausgesprochen. Wir hatten ein paar Mal telefoniert, wenn ich in Frankreich gewesen bin, doch meistens nur ein paar Minuten. Außerdem waren die Gespräche immer relativ oberflächlich gewesen.
Marlon pikste mir leicht in den Rücken, als Zeichen, ich solle mit ihnen gehen. Tatsächlich wäre ich aber so oder so mitgegangen. Der Tag würde echt unangenehm werden, wenn ich mich weigern würde. Aufgrund der Kluft zwischen uns würde es eh schon komisch sein.
Ich folgte den beiden Rentnern in die Küche. Die Arbeitsfläche war ungewöhnlich vollgestellt. Sie hatten schon angefangen, das gemeinsame Mittagessen vorzubereiten. Im Ofen buk ein gefüllter Truthahn, auf dem Herd kochten schon Kartoffeln als Beilage. In verschiedenen Schüsseln lagerten der englische Weihnachtspudding und Kekse. Das Gebäck war wahrscheinlich als Nachtisch oder Nachmittagssnack gedacht.
In einer Schüssel entdeckte ich Zimtsterne, welche Papa immer so sehr geliebt hatte. Mein Hals schnürte sich zu. Bisher hatte ich immer gedacht, nur Schokolade würde mich an die Zeit in dieser Familie erinnern. Offensichtlich gehörten diese Kekse aber auch zu den Dingen, die ich nicht mehr essen konnte. Gut, dass ich immer noch nicht so ein riesen Fan von Süßigkeiten war.
„Das Essen sieht lecker aus", stellte ich fest, um einen angenehmen Gesprächsstart hinzulegen.
„Damals hast du es geliebt."
„Damals habe ich auch Schokolade gegessen", hielt ich dagegen. Schon in dem Moment, in dem ich es aussprach, war mir klar, ich hatte gerade die falsche Antwort gegeben. „Entschuldigung. Ich bin immer noch nicht gut darin, Gespräche zu führen."
„Uns tut es leid, wie wir damals darauf reagiert haben, als du uns von deiner Mission erzählt hast", erklärte mein Großvater ruhig.
„Das sagt ihr mir bei jedem Telefonat. Es ist wirklich in Ordnung. Ich weiß, ich führe ein sehr anderes Leben als die meisten Leute. Selbst für eine Hexe ist meines verrückt. Und für euch muss es noch verrückter wirken, weil ihr auch nicht das Leben in der magischen Welt kennt. Ich mag mir nur nicht anhören, dass ich einen falschen Weg eingeschlagen habe.
Ich weiß, was ich alles mit meiner Entscheidung riskiere. Ich habe meine leibliche Familie ziemlich verprellt und dass sie mir verzeihen, ist recht unwahrscheinlich. Wenn ich entdeckt werde, ist es vermutlich der gnädige Ausgang, wenn ich mit einem Avada Kedavra getötet werde.
Aber es ist der richtige Weg für mich. Ich bin bereit, alles zu riskieren, um Hades loszuwerden."
„Das sehen wir jetzt ein, Patricia", gab meine Großmutter zu. „Deine anderen Großeltern und deine Tante Louise übrigens auch. Wir verstehen, dass du dir damals eine andere Reaktion von uns erhofft hast. Wir waren in dem Moment einfach sehr überfordert mit der Situation und sind es immer noch ein wenig. Wir bemühen uns aber, offener gegenüber deinem Leben zu sein."
„Ich versuche, nicht mehr ganz so schnell an die Decke zu gehen, wenn ihr mal wenig Verständnis habt", versicherte ich den beiden. Es wäre sicherlich hilfreich, wenn ich nicht immer an die Decke ging. Auch wenn ich momentan einen sehr kurzen Geduldsfaden hatte. Außerdem meldete sich wohl wie im dritten Schuljahr wieder mein Fluchtreflex. Sobald es kompliziert wurde, wollte ich lieber gehen, bevor ich diejenige war, die verlassen wurde.
„Wir haben dich immer noch sehr lieb, Patricia. Du bist unsere Enkeltochter", wurde mir von meiner Großmutter versichert.
„Ihr seid mir auch immer noch wichtig. Ich bin nur nicht gut darin, es zu zeigen."
„Auch das warst du noch nie", stellte mein Großvater belustigt fest. „Last uns jetzt mal wieder herübergehen. Die Weihnachtsgeschenke warten noch auf uns."
„Ich habe auch noch welche dabei. In meiner Jackentasche. Ich muss sie nur wieder vergrößern. Außer ihr wollt eure Geschenke in der Größe einer Streichholzschachtel haben."
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Hexagramm - Phönixruf
FanficDreizehn Nymphen, dreizehn Flüche. Sieben Horkruxe, drei zerstörte. Tahnea ist besiegt, Patricias Fluch ist gebrochen. Doch nun bleibt ihr nur kein Jahr, bevor sie stirbt. Kein Jahr, um die Vorgängernymphen und ihren Vater aus der Zwischenwelt zu be...