Teil 64 - Ivy

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Ivy

Auf einmal wusste ich, wie es sich anfühlte, wenn das Blut redensartlich in den Adern gefror. Eine unglaubliche Kälte durchfuhr meinen Körper, mein Kopf versuchte, das zu verarbeiten, was gerade passierte.

Ein Knall nach dem anderen war zu hören, nur dumpf, übertönt von der Musik, die immer noch aus der Sporthalle drang, und von den Schreien, die wirklich durch Mark und Bein gingen.

„Scheiße", presste Aiden hervor, der als Erster von uns beiden reagierte und mich am Arm packte und sofort wieder in die Umkleide zurückschubste. So stark, dass ich regelrecht über meine eigenen Füße stolperte und hingefallen wäre, wenn er mich nicht festgehalten hätte. Er schlug die Tür hinter uns zu, blankes Entsetzen war in sein Gesicht geschrieben.

Mein ganzer Körper zitterte. „Waren das...?" Ich konnte nicht weiterreden.

„Schüsse. Ja", ergänzte Aiden das, was ich sagen wollte.

„Oh Gott, Oh Gott, Oh Gott." Ich war wie gelähmt. Was passierte hier gerade? Was war das?

Während ich komplett starrstand, drehte sich Aiden wie wild im Kreis. Er machte mich nur noch ängstlicher, noch nervöser.

„Scheiße", wiederholte er. „Ich finde nichts, um die Tür zu versperren. Los, komm mit."

In einem Moment griff er nach meiner Hand, im anderen machte er mit der freien Hand das Licht aus. Plötzlich standen wir im Dunkeln. Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, als Aiden mich wegzerrte. Ein kleiner Lichtschein erschien, als er sein Handy herausholte. Er schaltete seine Taschenlampenfunktion ein und leuchtete uns den Weg zum angrenzenden Waschraum. Leider gab es auch hier keine Tür, die sich abschließen ließ, von den Toilettenkabinen mal abgesehen.

„Was machen wir jetzt?" Meine Stimme war kaum noch mehr als ein zittriges Flüstern. Es fühlte sich noch nicht einmal wie meine eigene Stimme an. Ich war nicht sicher, ob Aiden mich überhaupt gehört hatte. Aber das hatte er.

„Wir warten."

Das war seine schlichte Antwort. Er schaltete die Taschenlampe wieder aus. Es war extrem, wie die Dunkelheit uns wieder umgab. Es schien gleich mehrere Grad kälter zu sein. Es war, als ob diese Schwärze einem etwas aussaugte. Lebenskraft.

Ich merkte erst, dass ich am Wimmern war, als Aiden mich in seine Arme schloss. Warum wurde er nicht verrückt? Warum war er so ruhig? Wir versteckten uns in einem Waschraum unserer Sporthalle, weil da draußen – nur ein paar dünne Türen entfernt – etwas vor sich ging, das unvorstellbar wirkte. Aber es war Realität. Wir hatten die Schüsse gehört. Und die Schreie.

Das Wort Amoklauf dröhnte in meinem Schädel. Es klang in meinem Kopf wieder und wieder. Ich wollte es nicht wahrhaben. Das passierten nur anderen. Aber nicht hier. Nicht an der Jefferson High. Warum hier?

Ich wollte nicht sterben.

„Hier wird niemand reinkommen."

Aidens Stimme klang, als wäre er weit weg. Vielleicht lag es an der Panik, die sich in mir breit machte. Vielleicht auch daran, dass ich mein Gesicht so fest gegen ihn presste, weil ich ihn spüren musste. Ich hatte die Augen geschlossen, so konnte ich zumindest versuchen, die Dunkelheit um mich herum zu ignorieren.

Am schlimmsten fand ich jedoch nicht das Kauern, dieses Versteckspiel, in diesem lichtlosen Raum. Was mir am meisten Angst machte, war tatsächlich die Angst selbst. Ich hatte noch nie zuvor wegen irgendetwas so sehr gezittert. Mein Körper war komplett außer Kontrolle und diese Kontrolle zu verlieren, war beängstigend. Es war, als würde jeder Muskel zucken, jeder Körperteil Beben und es hörte nicht auf. Und leider merkte ich es zu sehr, mir war dieses Zittern zu sehr bewusst. Ich wünschte, ich könnte mich auf etwas anderes konzentrieren.

Torn - Die Liebe und alles dazwischenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt