Teil 66 - Aiden

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Aiden

Die Tage nach dem Winterball waren die schlimmsten meines Lebens gewesen. Das traf vermutlich auf alle von uns zu. Unterricht hatte natürlich nicht stattgefunden. In den nächsten Tagen sollte dieser zwar wieder aufgenommen werden, aber da bald Weihnachtsferien waren, stand es jedem bis dahin frei, ob er am Unterricht teilnehmen wollte oder nicht.

Zunächst einmal sollte es aber eine Abschiedsfeier geben. Und die würde heute sein. Auch dort herrschte keine Anwesenheitspflicht. Aber ich hatte mich entschieden, trotzdem hinzugehen. Vielleicht brauchte ich das.

Auch Eltern waren ausdrücklich eingeladen und Dad würde mich begleiten. Er hatte auch keine leichte Zeit gehabt. Im Krankenhaus waren einige Schüler eingeliefert worden. Eine Schülerin war sogar bei ihm im OP gewesen und er hatte sie nicht retten können. Ich hatte mir nie darüber Gedanken gemacht, wie oft er durch seinen Job wohl mit dem Tod konfrontiert wurde. Aber ich hatte jetzt noch mehr Respekt vor ihm. Das war ein ziemlich harter Job, den er da machte.

Hart würde auch diese Gedenkfeier werden. Ich zitterte leicht, als ich mit Dad aus seinem Auto stieg. Etwas makaber war, dass die Abschiedsfeier ausgerechnet in der großen Sporthalle stattfand. Ich hatte diese Entscheidung erst als total hirnrissig abgestempelt. Aber, wenn man ehrlich war, gab es nirgendwo so viel Platz wie dort. Und was sollte die Schule machen? Unser Direktor konnte schlecht sagen, dass die Sporthalle ab jetzt nicht mehr genutzt wurde, nur, weil schlechte Erinnerungen damit verbunden waren.

Vor der Turnhalle standen gefühlt Hunderte Kerzen, Blumen lagen dort, Teddybären. Pappschilder standen an den Wänden gelegt. Auf einigen stand einfach nur ein Wort: „Warum?" Genau das fragten sich immer noch alle.

In der Sporthalle herrschte eine seltsame Atmosphäre. Während die einen eher ruhig waren, sprachen andere ganz normal miteinander. Einige waren komplett in schwarz erschienen wie auf einer Beerdigung, andere wiederum hatten eher normale Kleidung an. Eins war aber bei allen gleich. Das Lachen war absolut jedem aus dem Gesicht gewischt worden.

Wann würde man wohl wieder lachen können?

Mein Dad und ich setzten uns irgendwo in der Mitte in eine der Reihen. Ich hatte keine Ahnung, was uns erwarten würde. Aber mit einem hatte man rechnen können. Und dennoch traf einen diese eine Sache wie ein Schlag in die Magengrube. Vorne standen Fotos in riesigen Rahmen. Ich musste nicht zählen, um zu wissen, wie viele es waren: siebzehn.

Siebzehn waren beim Amoklauf ums Leben gekommen. Stand jetzt wohlgemerkt. Denn noch immer lagen einige im Krankenhaus und kämpften um ihr Leben. Einer davon war Dean, der im Koma lag.

Ich hoffte, dass er durchkam. Ich mochte von ihm nicht besonders viel halten. Von ihm als Mensch. Aber so etwas hatte niemand verdient. Es waren schon zu viele gestorben.

Die Gesichter derjenigen, die ich gut kannte, brannten sich in meinem Kopf ein. Ich wollte die Fotos eigentlich nicht anschauen, aber ich konnte nicht anders. Viele lächelten auf den Bildern. Was für eine Ironie.

Aus unserem Footballteam waren neun unter den Opfern. Darunter Lennox und Trevor. Auch, wenn es mir leidtat, dass sie sterben mussten, hatte ich so eine Ahnung, dass die beiden Schützen wohl gedacht haben mussten, dass sie den Tod verdienten. Wenn ich überlegte, wie die beiden zu mir gewesen waren – einem Teamkollegen – dann wollte ich gar nicht wissen, wie sie ihre sogenannten Feinde behandelt hatten. Hatten sie auch andere mit Füßen getreten? Wortwörtlich?

Schlimmer traf mich der Tod von Timmy. Man konnte über unser Team viel Schlechtes sagen, nicht aber über ihn. Wenn einer die gute Seele unserer Mannschaft gewesen war, dann wohl er. Er war derjenige, der einerseits der Ruhepol gewesen war und andererseits auch derjenige, der mal den Mund aufgemacht hat. Er hat wirklich gesagt, wenn ihm etwas nicht passte. Er hat anderen die Meinung gegeigt. Auch, wenn das leider herzlich wenig genutzt hatte. Viele hatten sich trotzdem weiter verhalten wie echte Arschlöcher.

Torn - Die Liebe und alles dazwischenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt