Kapitel 20

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Sora hatte ihr größtes Schreckgespenst besiegt, aber sie spürte keine Erleichterung. Sie hatte so gehofft, dass mit dem Tod eine Last von ihr abfallen würde, aber dem war nicht so.

Im Gegenteil, sie spürte wie die Last seines Todes noch hinzukam und drohte sie niederzudrücken.

Rache war nicht befreiend, sondern schmerzhaft. All die Erinnerungen drängten sich an die Oberfläche und zwangen Sora in die Knie.

Taric fing sie auf, ehe sie zu Boden gleiten konnte.

Er schloss sie fest in die Arme und trocknete ihre Tränen an seiner Brust.

"Es tut mir so leid. Ich hätte wissen müssen, dass das zu viel für dich ist. Es war dein Erster, oder?"

Sora nickte schluchzend und drückte sich fester an Taric. Dessen Hände an ihrem Rücken schickten beruhigende Wellen durch ihren Körper.

Dann fasste er Sora und brachte sie blitzschnell zurück in ihr Zimmer.

Sora blickte in den Spiegel und ekelte sich vor sich selber, als sie die Blutflecken sah.

Sofort ging sie ins Bad und wusch sich mehrere Male, bis das Gefühl der Unreinheit langsam verschwand. Erst dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück, wo Taric noch immer auf sie wartete.

"Vielleicht hilft es dir ja, wenn du mit mir darüber redest."

Zweifelnd blickte Sora ihn an und überlegte.

Sollte sie ihm wirklich so viel anvertrauen?

Doch vielleicht war es wirklich an der Zeit etwas in ihrem Verhalten zu ändern. Seit Jahren machte sie alles mit sich selbst aus und es hatte sie bisher nicht weiter gebracht. Ihre Erlebnisse verfolgten sie und sie war machtlos dagegen.

Vielleicht würde es wirklich helfen, wenn sie sich ihm anvertraute. Immerhin hatte Taric bereits gezeigt, dass er ihr glaubte. 

"Er hat mich damals aus meiner ersten Gefangenschaft befreit, weißt du. Ich war frische 18 und war ihm so unendlich dankbar. Damals verstand ich noch nicht, wieso das alles passierte. Ich hatte ja gar keine Ahnung von dieser Welt..."

Während Sora erzählte, glitt ihr Blick in die Ferne.

Taric hatte sich auf ihr Bett gesetzt, hielt aber den nötigen Abstand und lauschte ihrer Geschichte.

"Er behandelte mich gut und nahm mich bei sich auf. Ich fühlte mich sicher. Er war meine einzige Bezugsperson und erklärte mir alles. Ich dachte, dass ich ihm wichtig wäre und fing an ihm zu vertrauen. Dabei war er schlimmer, als alle Anderen. Er genoss mein Vertrauen und trieb das Spiel auf die Spitze, bis ich mich in ihn verliebte. Er war meine erste große Liebe. In der Schule war ich für die anderen Jungs immer unsichtbar, aber nicht für Luke..."

Sora seufzte.

"Ich war so jung und naiv. Er spielte sein grausames Spiel so lange weiter, bis ich ihm freiwillig das einzige schenkte, was ich noch besaß. Nachdem wir dann eine Nacht miteinander verbracht hatten, wurde ich uninteressant für ihn. Er hatte alles bekommen, was er wollte. Erst nutzte er mich nur noch für das eine aus und dann verlor er ganz das Interesse. Dann durfte ich nicht mehr bei ihm wohnen und wurde zurück in eine Zelle gesteckt. Irgendwann sah er nicht einmal mehr nach mir. Ich war ihm völlig egal und mein Herz wurde in tausend Stücke gebrochen."

Es war so schmerzhaft daran zu denken und Sora fühlte sich so benutzt und schäbig. Es war ihr unglaublich unangenehm darüber zu reden. Bestimmt würde Taric sie jetzt in einem anderen Licht sehen.

"Das tut mir so leid. Ich hoffe du weißt, dass nichts davon deine Schuld war."

Sora nickte stumpf und wischte erneut Tränen weg, bevor sie sich in Tarics Arme warf.

"Und wer war Angel?", fragte Taric nach.

Ihm waren die letzten Worte von Sora an Luke nicht entgangen. Für Angel hatte Sora ihn getötet. 

"Ich bin noch nicht bereit dir davon zu erzählen."

Mühsam unterdrückte Sora die aufkeimenden Erinnerungen. Das waren die schmerzhaftesten Erinnerungen, die sie besaß. Vielleicht würde sie nie bereit sein, darüber zu reden. Dieser Erinnerungen würde sie mit aller Macht weiterhin verdrängen. Darüber reden würde es nicht besser machen. Nichts würde ihr Trauma heilen können.

Sie spürte wieder die Wut in ihrem Bauch und heiße Tränen des Hasses rollten über ihre Wangen.
"Danke, dass du ihn gefunden hast. Die Welt ist jetzt ein besserer Ort. Er hatte es nicht verdient weiter zu leben."

"Nach der Geschichte wünschte ich, ich hätte ihm vorher noch jede Gliedmaße einzeln ausgerissen. Er ist viel zu leicht davongekommen.", knurrte Taric.

"Sag sowas nicht. Er hat genau das bekommen, was er verdient hat. Er hat Menschen so sehr verachtet, dass sie nur zu seinem Spielzeug taugten. Glaub mir, als Mensch zu sterben war eine sehr harte Strafe für ihn."

"Das hoffe ich sehr.", seufzte Taric ergeben.

Sora genoss die beruhigende Wirkung von Tarics Nähe. Sie hatte es nie für möglich gehalten, eine solche Nähe noch einmal zuzulassen.

Aber Taric hatte sich schon jetzt in ihr Herz geschlichen. Sie konnte die Verbindung zwischen ihnen nicht mehr leugnen.

"Bleibst du noch?", fragte sie zaghaft.

"Natürlich.", erwiderte Taric lächelnd.

Sie brauchte ihn und das verunsicherte sie mehr als alles andere in ihrem bisherigen Leben. Obwohl sie in Sicherheit war, fühlte sie sich gerade verletzlicher als in der Gefangenschaft.

"Hast du einen weiteren Namen?", fragte Taric.

"Eine ganze Liste.", antwortete Sora düster und verzog das Gesicht.

Taric nickte und schwor sich, diese Liste gewissenhaft abzuarbeiten.

"Soll ich das ohne dich erledigen, oder willst du dabei sein?"

Sora wand sich von Taric ab, während ein Schauer über ihren Rücken jagte.

"Ich glaube nicht, dass mir Rache etwas außer weitere Schatten auf meiner Seele bringt. Dennoch finde ich dass die Vampire kein Menschenleben verdienen. Dafür haben sie zu grausames getan."

"Ich habe auch unendlich viel grausames getan.", erwähnte Taric toternst und plötzlich sehr bedrückt.

"Du warst der Erste, der gut zu mir war. Du kannst nicht abgrundtief böse sein. Zu mir bist du gut.", entgegnete Sora überzeugt.

Sie hatte zwar schon das ein oder andere mitbekommen, aber das wollte nicht mit ihrem Bild von Taric zusammenpassen.

"Oh glaub mir, ich bin nicht gut. Meine Seele hat nicht nur schwarze Flecken, sie ist tief schwarz. Du bist die erste Person, die seit meiner Verwandlung meine menschliche beziehungsweise wölfische Seite erreicht.
Nach der Verwandlung war ich mir sicher, dass ich sie für immer verloren hätte. Aber jetzt spüre ich endlich wieder den Zugang und du machst mich besser. Ich habe jetzt wieder den Willen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Aber die letzten Jahrhunderte wurde ich nur von Rache getrieben."

Sora schluckte hart. Eine schwarze Seele? Was musste man dafür getan haben? Sora wollte es sich gar nicht erst vorstellen.

"Ich habe wirklich schreckliches getan, aber durch dich bekomme ich vielleicht die Chance es wieder gut zu machen. Aber sei darauf gefasst, dass du noch die ein oder andere schreckliche Geschichte über mich hören wirst. Vielleicht werde ich mich auch nochmal daneben verhalten, weil mein moralischer Kompass verrutscht ist. Aber du kannst dir sicher sein, dass ich alles für dich tun werde. Ich versuche der bessere Mensch zu sein, für den du mich hältst."

"Ok."

Sora musste die Informationen erst einmal verdauen. Vorstellungen von Tarics mutmaßlich grausamen Taten rauschten durch ihren Kopf und sie wusste nicht, ob sie das verarbeiten konnte. Er war Vampir der ersten Generation. Vermutlich hatte er tausende auf dem Gewissen.

Konnte sie das akzeptieren?

Sie drehte sich weg, um zu schlafen und ließ dabei aber zu, dass Taric sie wieder berührte.

Broken Mate - Der HeilungsfluchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt