Kapitel 21

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H A R R Y

Dreizehn Jahre

Sandkörner rieseln durch meine Finger. Sie sind warm und ganz fein. Sie triefen nicht vor Nässe, sind aber auch nicht gänzlich trocken. Auf meiner Kleidung zeichnen sich Spuren des Sandes ab, auf dem ich sitze.

Im Hintergrund rauscht das Meer. Wellen spülen sich an Land und ziehen wieder davon. Ein ewiges Hin und Her. Sie kommen. Sie gehen. Sie kommen erneut und gehen dennoch wieder fort.

Eine Stimme ertönt in dem Nebel meines Bewusstseins. „Du siehst nachdenklich aus.", bemerkt Brexon, als er sich neben mir in den Sand niederlässt und in die Ferne blickt.

Die Sonne geht allmählich unter und verschwindet hinter den Weiten des Ozeans, der sich vor uns erstreckt. Ich beobachte das unendliche Spektakel der Wellen. „Sie kommen und gehen. Immer wieder.", nuschle ich vor mich hin und bohre in dem Strand unter mir. Ich füge noch hinzu: „Die Wellen."

Im Augenwinkel vernehme ich seinen kontemplativen, geistesabwesenden Blick, als würde er nachdenken. Er hat eine kleine Falte zwischen den Brauen. „Ich habe schon oft darüber nachgedacht.", sagt er schließlich und unterbricht die angenehme Stille zwischen uns.

Auf uns liegt eine stickige Wärme, die mir das Atmen erschwert. Heiße Sommernächte passten mir noch nie in den Kramm. Ich brauche manchmal einfach eine Abkühlung, fernab von der Hitze.

Nun drehe ich mich zu ihm und legte einen fragenden Blick auf.

„Die Wellen kommen und gehen, und doch habe ich das Gefühl, dass eine von ihnen, die gleiche, immer wieder zurückkehrt.", spricht er seine Gedanken aus und rümpft seine Nase. „Jedenfalls möchte ich das glauben. Denn ich hoffe es." Er führt diesen Gedanken nicht weiter aus. Das braucht er nicht. Ich weiß, was er meint. 

Doch selbst wenn diese eine Welle nicht mehr zurückkehrt, wird sie irgendwo ihren Frieden in den Weiten finden. Vielleicht ist es genau ihre Bestimmung. Der Grund, weshalb sie nicht zurückkehrt.

„Für die Welle?", frage ich grüblerisch.

Er schüttelt den Kopf. „Nein, für den Strand.", sagte er und lächelt zaghaft. „Die Wellen entscheiden, ob sie zurückkehren, aber wenn der Strand sie nicht heimkehren lässt, weil er nicht das Gleiche empfindet, schlagen sie niemals an Land."

Ich drehe mich wieder den Wellen zu und beobachte genau, wie sie sich bewegen. „Aber woher soll der Strand wissen, welche die eine Welle ist? Da sind so viele."

„Manchmal kann man den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen. Doch tief in deinem Herzen spürst du, welche Welle zu dir gehört.", sagt er und vergräbt ihre Finger im Sand.

„Und du?", frage ich. „Hast du deine Welle schon gefunden?"

Er kaute gedankenversunken auf seiner Lippe, ehe er antwortete: „Ich glaube schon."

„Wie hast du deine Welle bemerkt?", frage ich, schiebe mein T-Shirt wieder ein wenig nach unten, da es hochgerutscht ist und man somit einen Blick auf meine schmale V-Linie werfen kann.

Er reibt sich den Nasenrücken und stützt seine Hände hinter dem Rücken ab, um sich zurückzulehnen. „Ich wusste es einfach. Ich habe ihr in die Augen gesehen und mich durchzog ein Gefühl, als hätte ihr Blick gereicht, um mich völlig zu beflügeln. Sie ließ die toten Schmetterlinge in mir wieder leben.", sagt er und ein Schmunzeln umspielt seine Lippen.

„Wie hat sie dich denn angesehen?" Ich wusste nichts über Liebe. Ich konnte sie nicht einmal von Freundschaft trennen. Louis zum Beispiel. Ich mag ihn mehr als Brexon, weil mich sein Lächeln zum Lachen bringt und mich ein angenehmes Kribbeln durchfährt, wenn ich sie ansehe. Er erhellt meinen Tag. Doch ob ich von Liebe sprechen kann? Zudem sind wir nicht befreundet, geschweige denn, kenne ich ihn.

„Sie hatte dieses Funkeln in ihren Augen. Ein Leuchten. Ich konnte ihr plötzlich so tief in die Augen sehen, dass ich mich darin verlor. Es ist wie der Ozean. Ich könnte Stunden darauf starren, ohne zu wissen, dass bereits eine Minute vergangen ist. Bei ihr fühlen sich Stunden wie Sekunden an. Manchmal denke ich sogar, dass die Welt für uns stehen geblieben ist. Nur für uns. Und sie sieht mich auch an. Lange und intensiv. Sie lässt mich fühlen, als sei ich der schönste Junge der Welt und als würde ich ihr alles bedeuten.", sagt er und blickt fast schon nostalgisch in die Wellen. Neue kommen, Alte gehen.

„Und jede Welle hat einen Strand?"

„Jede Welle hat einen Strand.", bestätigt er und nickt bekräftigend.

„Was ist, wenn ich niemals eine Welle haben werde?"

„Oh Haz, jeder hat eine Welle. Und wenn der Strand keine Welle hat, dann hat der Strand einen Strand."

Ich schaue ihn schief an. „Das ist doch überhaupt nicht kompatibel.", meine ich dann und ziehe fragend meine Augenbrauen zusammen. „Oder?"

Er lacht auf. „Doch. Eine Welle muss nicht zwangsläufig zu einem Strand gehören. Manche Wellen gehören zu Wellen, manche Strände gehören zu anderen Stränden. Am Ozean ist kein Traum zu groß. Du musst dich bloß wagen, deinen Traum groß zu träumen."

Ich kratze mir nachdenklich am Hinterkopf. „Du sagtest, du hättest deine Welle gefunden... Bist du der Strand oder auch die Welle?"

Er lächelt bei meiner Frage. Er legt sich in den Sand und starrt in den Himmel. Er ist klar, nur wenige, schwache Wollen bestücken ihn. Diese ziehen auch ziemlich schnell vorbei, klären dadurch den blauen Himmel, der ebenso unendlich aussieht wie der Ozean. Ich lasse mich neben Brex fallen, verschränke meine Finger unter meinem Kopf.

„Ich bin ein Strand, aber vielleicht werde ich irgendwann eine Welle. Wirklich festlegen tue ich mich da nicht. Das musst du auch nicht. Wenn du jetzt eine Welle liebst und irgendwann einen Strand, dann ist es völlig in Ordnung. Sei einfach du selbst. Denn meine Schwester sagte mir einst, dass sie die Vielfalt, die sie im Leben gesucht hat, in der Liebe gefunden hat. Und seitdem lebe ich danach." Er grinst vor sich hin und wirkt dabei so losgelöst und frei von allen Sorgen.

Ich denke einen kurzen Moment nach. Irgendwie fühlt sich Louis wie mein Strand an. Er scheucht mir Schmetterlinge durch den Bauch, wenn man diese Ungeziefer in meinem Magen, die mich völlig um den Verstand bringen, so nennen kann. Sie sind immer da, wenn ich Louis sehe.

„Brex?"

Der Mond steht tief am Nachthimmel. Er reflektiert im Wasser und hinterlässt einen Schimmer. Es ist ein Halbmond, mit scharfen Spitzen. Ein Mond wie im Bilderbuch.

„Mhm?", gibt er in einem ruhigen, geselligen Ton von sich und schließt die Augen.

Ich presse meine Lippen aufeinander, ehe ich nach meinem letzten bisschen Mut greife und meine Gedanken laut ausspreche. „Ich glaube, ich habe meinen Strand gefunden."


Echoes Of Yesterday - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt