Kapitel 25

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H A R R Y

achtzehn Jahre alt

Bailey hätte es gehasst.

Eine ganze Rede darüber zu halten, wie sehr ich um sie trauere? Sie hätte mich eigenhändig eine Klippe hinuntergestürzt. Bailey hat Aufmerksamkeit verabscheut, aber noch allergischer hat sie auf traurige, schlechte Stimmung reagiert.

Brexon steht vor mir, beide Hände auf meinen Schultern und strafft das Jackett. „Es ist der letzte Schritt. Danach kannst du endlich weitermachen."

Ich schnappe geräuschvoll nach Luft. Als wäre das so einfach. „Ich bin nicht sicher, ob ich weitermachen will. Bailey ist so präsent in meinem Kopf."

„Und gerade wegen ihr musst du weitermachen. Sie hätte nicht gewollt, dass du dich ihretwegen aufgibst."

Ich ringe nach Worte, doch je tiefer ich in meinem Gehirn grabe, um etwas Sinnvolles zu finden, je mehr negative Gedanken finde ich vor.

„Harry Styles", ruft Schulleiter Quinton mich auf und winkt mich zu sich auf die Bühne.

Mein Blick gleitet unsicher zu Brexon. „Kannst du mitkommen? Du sollst nichts sagen... einfach da sein."

Er nickt. „Natürlich. Du schaffst das." Sein Zuspruch lässt meine Sorge ein wenig schmelzen.

Mit wackeligen Knien trete ich die Treppen hinauf, die seitlich der Bühne angebracht sind. Die Scheinwerfer sind auf mich gerichtet und ich hasse einfach alles hier dran. Ich hasse die tausenden Blicke, die auf mir liegen, nur weil ich der Bruder des Opfers bin. Ich hasse das Mitleid in ihren Augen, weil erst Baileys Tod sie aufgeweckt hat. Vorher hat sich niemand darum geschert, dass ich unter dem Mobbing leide. Ich hasse Schulleiter Quinton, der mich an der Treppe in Empfang nimmt und mich mit einem Arm um die Schulter zu dem Holzpodium geleitet.

Ich stecke meine Finger in die Hosentasche und fische meine Rede hervor, an der ich Stunden lang getüftelt habe. Sie ist zerknickt und Tränen überlaufen, wodurch die Tinte verschmiert ist. Ich lege sie auf die Ablage vor mir, streiche sie glatt, als würde ich damit die Rede noch weiter herauszögern können.

Der Kloß in meinem Hals wird dick und schwer. Brexons Hand liegt unauffällig und beruhigend auf meinem Rücken. Ich nehme mir Zeit, um ins Publikum zu sehen. Gleich in der ersten Reihe entdecke ich ihn. Louis. Dass er sich überhaupt traut, hierherzukommen, nach allem, was sein Freund uns angetan hat. Es dreht sich nicht nur um die Opfer, die Freunde und Familie, die wir verloren haben. Es geht auch um die anderen Schüler, die die Schüsse gehört haben, die die Opfer zu Boden haben sacken sehen.

Aber ich sehe Louis in die Augen, sein Blick auf meinem, und all die Lebendigkeit ist erloschen. Es erscheint mir, als habe er auch etwas verloren. Als würde er auch leiden. Es macht die Tatsache, dass er einen Mörder liebt, nicht wett, aber dass er leidet, macht sie ein wenig erträglicher.

Es ist, als würde die gesamte Halle den Atem anhalten. Corrinnes Mutter hat bereits eine Rede gehalten, hat sie aber abgebrochen, als sie auf der Bühne das Bewusstsein, die Folge einer Panikattacke, verloren hat. Dann stand Davids bester Freund auf der Bühne. Es war weniger eine Trauerrede, als eine Dankesrede für alles, was David ihm gegeben hat. Wie ich von Schulleiter Quinton erfahren habe, hat sich Isabelles Familie dagegen entschieden, an diese Schule zurückzukehren, um Miles keine Plattform zu geben. Nach der missglückten Rede von Corrinnes Mutter ist die Stimmung angespannter und stickiger.

Ich presse die Lippen aufeinander und richte das Mikrofon auf mich.

Ich räuspere mich, was durch die Boxen des Foyers widerhallt. Für den Bruchteil einer Sekunde möchte ich wieder umkehren, aber ich bin kein Feigling, wie Miles es war. Ich muss mich dem stellen. „Ich- ähm... ich bin Harry Styles, der Bruder von Bailey Hazel Styles. Ich wurde gebeten, diese Rede zu halten, um Sie alle daran zu erinnern, welch ein toller Mensch sie war und welch ein tolles Leben sie führte." Während dieser Worte legt sich ein Schalter in mir um. Sie wollen, dass ich von Perfektion sprechen, wenn ich nicht weiß, wie sie aussieht. Baileys Leben war nicht perfekt. Ich klappe das Blatt auf dem Podium zu und stopfe es in meine Hosentasche.

„Man verlangt von mir, über das Leben einer Dreizehnjährigen zu berichten, dessen Leben auf unfaire, qualvolle Weise genommen worden ist. Sie hatte ihr gesamtes Leben vor sich, sie war ein junger Teenager mit Träumen." Ich wische mir die Tränen von der Wange, während Brexon mir beschwichtigend über den Rücken streichelt. „Ich war dabei, als die Kugel sie traf. Sie warf sich vor mich, hat sich für mich in den Tod gestürzt. Er wollte mich treffen, er wollte mich tot sehen. Als hätte das Mobbing meines Peinigers nicht genug ausgereicht, Miles wollte mich töten. Dieser Mensch war ein grausamer Mensch, der den guten Menschen um ihr Leben beraubt hat."

Ein Raunen schwabbt durch die Menge. Komm schon, was haben sie denn erwartet? Eine Lobeshymne? Dass ich ihn ganz Harry Potter like ‚Der Name, der nicht genannt werden darf' taufe?

„Ich wünschte, ich könnte auf dieser Bühne stehen und sagen, dass der Tod meiner Schwester einen Sinn hatte. Dass etwas auf der anderen Seite des Lebens auf sie wartet, das es nicht länger ohne sie ausgehalten hat. Ich wünschte, ich könnte auf dieser Bühne stehen und sagen, dass meine Schwester ein langes und erfülltes Leben hatte. Dass sie um die Welt gereist ist und ihre Träume leben konnte. Ich wünschte, ich könnte auf dieser Bühne stehen und sagen, dass ich den Jungen, der mir meine Schwester genommen hat, nicht hasse. Dass ich ihm verzeihen kann. Würde ich all das sagen, dann würde ich lügen, denn die Wahrheit ist, dass ihr Tod sinnlos war. Die Wahrheit ist, dass ihr Leben zu kurz war und sie ständig darauf gewartet und gehofft hat, dass die Zeit ihrer Träume gekommen ist. Die abscheuliche Wahrheit ist, dass ich diesen Menschen, diesen Mörder hasse. Mit jeder Faser meines Körpers. Ich bin froh, dass er tot ist und das sage ich so wahr ich hier stehe." Alle Blicke kleben auf mir, niemand rührt sich. „Ich bin es satt, zu verleugnen, wer ich bin und was ich fühle. Meine Schwester Bailey hat auf Dinge gewartet, die nie in Erfüllung gingen und hat damit ihr ganzes Leben an sich vorbeiziehen lassen. Ihr Tod hat mir gezeigt, dass es sich nicht lohnt zu warten, wenn du auch gleich nach den Sternen greifen kannst."

In den Augen meiner Mitschüler liegt nur noch Schmerz. Sie sollen hören, was Miles genommen hat.

Dieser Junge hat massive Hilfe benötigt, aber niemand hätte sie ihm geben können, weil er verbittert war.

Louis starrt mich an. Tränen stehen in seinen Augen, seine Hände zittern und sein Atem geht so schnell, dass ich befürchte, er würde jeden Moment aus den Latschen klappen. „Das Geräusch des Schusses echot noch immer in meinem Kopf. In dem Moment, in dem es geschehen ist, habe ich mir einen Schleier gesponnen, habe all das nicht registriert. Aber im Nachhinein ist alles umso präsenter. Ich habe fünf Schüsse gehört." Es beginnt immer gleich... mit einer trächtigen Stille. Nicht einmal das Atmen ist zu hören, weil ihn jeder anhält. Dann ertönt ein durchdringendes Krachen, ein donnernder Knall, als würde die Luft zerrissen werden. Es ist ein tiefes, gefürchtetes Geräusch. Das Echo eines Schusses, der den Schleier durchschneidet. In dem Augenblick des Schusses habe ich zum ersten Mal gespürt, was all die Autoren immer meinen, wenn sie sagen, dass das Blut in den Adern gefriert. Ich reiße meinen Blick von Louis los.

Ich atme zittrig aus. „Alle sagen, die Zeit heilt alle Wunden. Lasst mich sagen, dass das ein Haufen Blödsinn ist. Glaubt ihr wirklich, dass ich das Echo dieses Schusses jemals vergessen werde? Es ist ein Geräusch, das sich in dein Gehirn, in jede Hautzelle deines Körpers und im schlimmsten Fall in dein Herz brennt. Denn einer dieser Schüsse, der erste, um genau zu sein, hat mein Leben für immer verändert. Wie sollte also die Zeit meine Wunden heilen, wenn der einzige Mensch, der sie heilen könnte, nicht mehr da ist? Ich brauche eine andere Zeitlinie, eine Parallelwelt, um ein Leben ohne Narben zu führen. Es gibt nur vier Menschen, denen Miles eine schuldet. Corrinne, David, Isabelle und Bailey und darüber hinaus all die Menschen, die leiden werden, weil das Geräusch des Schusses nie aus ihren Köpfen verschwinden wird."

Gerade kann ich mir nichts schöneres vorstellen, als all den Schmerz loszulassen und in Frieden zu sein. Vielleicht habe ich Dumbledore deshalb immer geglaubt. ‚Do not pity the dead, Harry. Pity the living, and, above all those who live without love.'

Ich straffe die Schultern und nehme einen tiefen Atemzug. „Ich werde das Echo dieses Tages nie vergessen." 

Die Echos von Gestern...

Als ich diesen Tag noch einmal haargenau durchlaufe, der Mann, der mir einen Teil meines Lebens genommen hat, vor meinen Augen erscheint, verwelkt mein Herz.

Echoes Of Yesterday - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt