Kapitel 1

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L O U I S

Ein Leben lang debattieren wir darum, was fair ist und was nicht. Als gäbe es eine Bedienungsanleitung, die wir ausnahmslos zu befolgen haben. Ein fehlerfreies Konzept, wo die Gerechtigkeit wuchern soll.

Wir marschieren in unserem Leben durch tiefe Täler und hohe Berge, frage dabei immer nach dem Warum. Warum spüre ich diesen Schmerz? Warum habe ich diese Person verloren? Warum werde ich diese Erinnerung nicht los? Wir vergessen dabei, dass die hohen Berge schöne Momente bereithalten, wie die Aussicht über das sonnige Land. Wir sehen nur die Anstrengung, die vor uns liegt, weil wir den Berg besteigen müssen. Ist auch das ungerecht? Dass wir überhaupt die Chance bekommen, aufzusteigen, wenn es doch so viel Mut und Abmühen kostet?

Das Leben mag ein vielschichtiger Wandteppich sein, in dem die Ungerechtigkeit brodelt. Das Schicksal hat seine Launen, die einen begünstigt es, während andere vor Prüfungen stehen, vor Kämpfen, die noch kommen. Dabei versuchen wir nicht, die Prüfungen zu bestehen, oder die Kämpfe zu gewinnen. Wir konzentrieren uns darauf zu fragen, warum es uns getroffen hat. Immer und immer wieder. Warum. Warum. Warum.

Und es wird nicht besser.

Dass das Leben nicht fair ist, haben bereits Nelson Mandela und Martin Luther King gewusst. Als Kind habe ich ihren Reden gelauscht, habe mit großen Augen zu ihnen aufgesehen und mich gefragt, wie sie immer die richtigen Worte fanden. Ein Zitat ist mir im Gedächtnis geblieben. Ungerechtigkeit irgendwo ist eine Bedrohung für die Gerechtigkeit überall, und das hat mich dazu gebracht, Jurist zu werden. Nicht unbedingt Kings Worte, aber der Fakt, dass diese machtvollen Personen Tag für Tag um Gerechtigkeit kämpften und wir heute noch immer hungernde Menschen haben, Familien ohne Dächer über dem Kopf, rassistische Diskriminierung, Länder, die um ihre Gebiete kämpfen und Ungleichheiten zwischen Mann und Frau.

Ich wollte es ändern.

Doch ein Tag hat mich verändert.

Der Tag, an dem ich Teil dieser Ungerechtigkeit wurde.

Bang.

Gerechtigkeit.

Das Leben ist vorbei, ehe wir realisieren, dass es niemals gerecht sein wird.

Als ich einen Fuß in die vertraute Umgebung setze, überkommt mich eine Welle der Nostalgie. Die Straßen, Gebäude und das Wasser lösen eine Flut von Erinnerungen aus und wecken ein Gefühl der Vertrautheit. Eine Vertrautheit, die ich seit langem nicht mehr verspürt habe. Doch das warme Kribbeln auf meiner Haut fühlt sich seltsam an.

Anders.

Neu.

Bal Harbour, die Provinz, in der ich aufgewachsen bin, in der ich mich zum ersten Mal verliebt habe, da, wo ich meine eigene, kleine Familie aufgebaut habe, in der es passiert ist und in der alles zerbrochen ist. Es ist auf mich hereingeprasselt wie ein verdammter Asteroid, der über meinem Kopf explodiert.

Es sind Jahre vergangen, seitdem ich die Sonne im Süden erblickt habe und sicherlich wird Mum mich dafür rügen, mich so selten geblickt haben zu lassen. Ich brauchte den Abstand zu Bal Harbour und all den Menschen, die mich dafür verachtet haben, dass ich geliebt habe.

Diese Stadt hat mich nicht glücklich gemacht und er wusste das. Er sagte mir immer, dass ich zu gut für Bal Harbour wäre und mehr verdiente, um wirklich frei zu sein. Diese Stadt konnte mich nicht halten. Er war es, der mich festgehalten hat. Irgendwann fühlten sich die Gebäude und Straßen erstickend an wie eine Spelunke, und als er nicht mehr an meiner Seite war, löste ich mich aus den Griffen dieser Stadt.

Mein Blick schweift zur Biscayne Bay. Das azurblaue Wasser wird Gold von der Sonne geküsst, von sanften Brisen gestreichelt und schwappt in weißen Wellenkämmen auf mich zu. Die Oberfläche funkelt wie Diamanten. Möwen steigen auf, ihre Klänge sind wie eine Ode an die Freiheit. Es war mein Rückzugsort. Ich bin hierhergekommen, um meine Sorgen von den Wellen wegspülen zu lassen, als hätten sie die Magie, meine Seele zu reinigen. Doch die Biscayne Bay hat etwas Magisches, vor allen Dingen abends, wenn die Sonne langsam hinter dem Horizont verschwindet und alles urplötzlich real wirkt. Das Wasser wird nicht mehr von der Schönheit der Sonne bestrahlt und nicht von lautem Gelächter der Menschen zu einem heimeligen Ort gemacht. Es wird ruhig, distanziert und dunkel. Es ist vergleichbar mit der Nacht, wenn all unsere Gedanken heimkehren und wir beginnen, unser Leben zu überdenken. Denn die Wahrheit ist: Das ist unser Leben. Tagsüber überschatten wir unsere sorgsamen Gedanken, aber der Schatten fällt, sobald die Sonne zu untergehen beginnt und wir müssen damit zurechtkommen, dass das Leben nicht immer hell ist.

Echoes Of Yesterday - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt