Kapitel 40

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H A R R Y

Der Flashback und die damit erneut aufkommenden Erinnerung zogen mich derart herunter, dass ich den gesamten Tag mit einer langen Heulsession verbracht habe, während Meadow und Louis bei ihrer Mum waren. Umso erleichterter bin ich, als der Montag anbricht und ich meinen Termin bei Dr. Wayman wahrnehmen kann.

Ich setze mich auf den gemütlichen Sessel und nehme den Tee dankend an, den er mir anbietet. Dr. Wayman personifiziert die Freundlichkeit. Wir durchlaufen ein Update meiner Woche, nachdem er eines seiner Räucherstäbchen angezündet hat. Ich informiere ihn über Louis und mich, wobei ich nicht bemerke, wie sich immer wieder ein glückliches Lächeln auf meine Lippen schleicht, sobald mein Therapeut etwas über ihn wissen möchte.

Louis ist meine Glückseligkeitsquelle, bei der ich mein Happy-Kapsel auffüllen kann, wann immer mir danach ist. Er lächelt mich an und sendet es gleich zu meinen Lippen hinüber.

Dann sprechen wir über meine Flashbacks. Viel zu sagen brauche ich nicht, denn Dr. Wayman ist bestens über meine Vergangenheit informiert. Er fragt, welche Situationen mir genau in den Sinn kamen und ich sage ihm, dass es jene waren, mit der die Hölle zu brennen begann.

„Könnten Sie die Zeit zurückdrehen, würden Sie ein Coming Out verhindern?"

Die Frage verblüfft mich ein wenig. Sie ist naheliegend, sie zu fragen, dennoch ist sie in noch keiner Stunde in all den Jahren aufgekommen. Warum jetzt?

Ich verkneife mir ein Lachen. Ich könnte mir damit all das Leid ersparen, durch das ich hindurch musste. Ich hätte eine heile Familie, die mich geliebt hätte. Das Mobbing in der Schule wäre ausgeblieben, dadurch wäre ich niemals in das Visier von Miles geraten und Bailey wäre am Leben. All das ist passiert, weil ich schwul bin. „Natürlich", antworte ich deshalb mit einer Selbstverständlichkeit, die meine Brust verengt.

„Weshalb?"

„Ich hätte eine Familie. Bailey wäre bei mir und niemand in der Schule hätte mich jemals dafür schikanieren können, dass ich auf Männer stehe. Es wäre ganz simpel gewesen, normal zu sein.", erwidere ich. Immer wieder zucke ich mit den Achseln.

Er macht sich Notizen. „Sie kamen sich von der Menschheit entfremdet vor, weil Sie schwul sind?", hakt er nach und wendet die Augen von seinem Klemmbrett ab.

Ich nicke bestätigend. „Alle Jungs um mich herum standen auf Frauen. Ich stach heraus, weil ich eher sie wegflanken würde, als ihre Freundinnen.", antworte ich schamlos. Für einen kurzen Moment verzieht Dr. Wayman das Gesicht über meine Wortwahl, ehe er zu seinem nicht urteilenden, viel mehr monotonen und neutralen Gesichtsausdruck zurückkehrt.

Er sieht mich über sein Brillengestell hinaus an. „Also ist Louis in Ihren Augen nicht normal?", fragt er.

Ich ziehe die Augenbrauen zusammen. „Was hat Louis damit zu tun?"

„Nun ja, Sie sagen, dass Sie normal gewesen wären, hätten Sie auf Frauen gestanden. Louis ist schwul. Viele Menschen auf der Welt sind es. Verurteilen Sie sie dafür?"

Ich lache auf. „Ich bin nicht homophob."

„Dann lassen Sie mich meine Fragestellung ändern: Finden Sie es in Ordnung, sich selbst gegenüber homophob zu sein? Ist Homophobie legitim, wenn es Ihre eigene Person betrifft?"

Das lässt mich zum ersten Mal richtig aus der Bahn werfen. Ich verziehe das Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse, denn Dr. Wayman hat recht. Wieso kann ich anderen gegenüber nicht homophob sein, weil ich es absolut verabscheuen würde, sie für ihre Sexualität zu verurteilen, aber mir gegenüber schon?

Dr. Wayman beißt sich nachdenklich auf die Lippen. „Lassen Sie mich meine Frage noch ein wenig mehr präzisieren, bezogen auf unseren Ausgang. Könnten Sie die Zeit zurückdrehen, würden Sie ein Coming Out verhindern? Würden Sie im Zuge dessen auf Louis verzichten? Auf all die Liebe, die er Ihnen geben kann? Würden Sie sich wünschen, nie schwul gewesen zu sein, wodurch Sie nie erfahren würden, wie es sich anfühlt, von Ihrem Jugendcrush geliebt zu werden? Könnten Sie auf Liebe verzichten, nur um in das Bild Ihres Vaters reinzupassen, den wir in der Psychologie mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung diagnostizieren würden? Er hat Sie ausgenutzt, um seine Macht zu demonstrieren und Sie unterzuordnen."

Echoes Of Yesterday - Larry StylinsonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt