Kapitel 101 - aus Amelies Perspektive

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Nach wie vor etwas durch den Wind stehe ich im Park. Ich laufe einige Schritte und versuche, das was eben in den letzten Minuten passiert ist, für mich einzuordnen. Malik war super vorsichtig und hat das total einfühlsam gemacht. Er hat mir genau erklärt, was er machen wird und nach der ersten Befangenheit hat es sich auch gar nicht mehr komisch angefühlt - im Gegenteil. Klar, es gab schon Bereiche, die echt unangenehm waren. Aber ich habe das Gefühl, dass er wirklich etwas bewirken konnte. Irgendwie fühle ich mich, wie soll ich das beschreiben, nicht mehr so "verknotet" innerlich. Ich lege meine Hand auf meinen Bauch und spüre in mich hinein. Ja - das fühlt sich gut an. Mein ganzer Körper fühlt sich gut an. Das Yoga heute morgen hat auch schon richtig gut getan. Mein Kopf kommt langsam zur Ruhe und mein Körper dadurch hoffentlich auch. Es war wohl doch die richtige Entscheidung, dass Raik mich hierhergezerrt hat. Beziehungsweise hatte ich da ja eigentlich echt nicht viel mitzureden. Wenn ich nur wüsste, was Jan gegen mich und meine Beziehung zu Raik hat? Ich verstehe es nicht. Und was geht es ihn überhaupt an? Ich setze mich auf eine Bank und betrachte die Natur um mich herum. Mein Leben hat in den letzten Wochen ganz schön an Fahrt aufgenommen. Eigentlich seit Chiara in mein Leben getreten ist.  Das Wochenende mit Chiaras und Maxs Freunden, das Kennenlernen von Raik und dann noch die Diagnose der Endometriose. Das war dann doch vielleicht alles ein bisschen viel. Ich beschließe, mich zu einem kleinen Nap hinzulegen. Wann hat man dazu schon die Möglichkeit mitten am Tag. 

Pünktlich zum Mittagessen betrete ich den Speisesaal. Ich hole mir mein Essen ab. Mittlerweile habe ich mich an meine "Diät" gewöhnt. Ich setze mich zu einem etwas älteren Paar dazu und bin gespannt, was mich wohl nachher in der Sitzung erwartet. Ein bisschen ein Aber habe ich dazu ja schon. Ich meine, was soll das bringen. Aber gut, ich hatte ja auch nicht gedacht, dass die Ernährungsumstellung und die Osteopathie etwas bringen können. Also werde ich das auf mich zukommen lassen! Ich schiebe mein Tablett beiseite, verabschiede mich von dem Pärchen und sitze kurz darauf vor dem Zimmer, wo die Gesprächstherapie stattfinden soll. Ich bin nun doch etwas angespannt. Schließlich öffnet sich die Tür. Der freundlich aussehende, ältere Mann, mit dem ich gestern gesprochen habe, öffnet mir die Tür. 

"Hereinspaziert!", sagt er freundlich und deutet eine Verbeugung an. Ich muss lachen, betrete dann aber das freundlich eingerichtete Zimmer und setze mich in die Sitzgruppe. Die Sessel sind bequem. Meine Anspannung schwindet. Dieser Mann ist mir auf jeden Fall schonmal grundsätzlich sympathisch. 

"So, schön, dass Sie da sind!" Er lächelt mir zu. "Auch wenn das ja nicht ganz freiwillig der Fall war, nicht?

"Ja. Das kann man so sagen. Manchmal muss man wohl doch zu seinem Glück gezwungen werden...", gebe ich zurück. 

"Sehen Sie das denn wirklich so?", fragt er mich und schaut mich aufmerksam an. Ich überlege kurz. 

"Hm. Also wenn ich ehrlich bin, geht es mir schon immer wieder so, ja!"

"Können Sie mir da eine Situation beschreiben, in denen Ihnen das schonmal so gegangen ist?"

"Ja. Kann ich!" Verschiedene Situationen gehen mir durch den Kopf. "Also. Ich bin ja eher eine zurückhaltende Person, die verschiedene Dinge bestimmt nicht erreicht hätte, wenn andere sie nicht mitgezogen hätte!" Er schaut mich ruhig an, während ich nach weiteren Worten suche. 

"Wenn es zum Beispiel um Freunde und Unternehmungen geht. Ich war als Jugendliche viel zu schüchtern um beispielsweise in Clubs zu gehen oder Männer anzusprechen. Da habe ich mir dann schon Leute ausgesucht, die das mit für mich klar gemacht haben."

"Sie haben aber gerade gesagt, dass Sie schon die Menschen dazu ausgesucht haben..."

"Hm. Ja, das stimmt schon." Ich denke kurz darüber nach. "Ich bin ja auch nie in dieser Hinsicht ausgenutzt worden, oder so..."

"Das liegt dann wahrscheinlich an Ihnen!" Er lächelt mir warm zu. 

"Ja, vielleicht. Aber, also ich meine ich habe so oft das Gefühl, dass ich einfach nicht aus meiner Haut kann und das macht mich total fuchsig!"

"Ist Ihre Haut denn gleichbedeutend mit ihrer Komfortzone?"

"Ja, ja definitiv!", gebe ich erstaunt zurück. "Ich habe Angst!"

"Wovor?"

"Das etwas passiert, ich mich blamiere. Das andere mich nicht mögen könnten..." Meine Stimme wird leiser. 

"Ist Ihnen das wichtig?"

"Ja, leider sehr. Ich versuche da auch immer wieder drüber hinwegzusehen. Aber es fällt mir wirklich schwer nicht immer auf meine Außenwirkung bedacht zu sein."

"Sie haben mir ja gestern von Ihrem Freund erzählt", wechselt der Arzt das Thema. Ich merke, dass ich beginne zu lächeln. 

"Das war ein guter Impuls!"

"Ja? Fühlt es sich denn für Sie richtig an, mit ihm zusammen zu sein?

"Also mir ist klar geworden, dass nicht er der begrenzende Faktor ist, sondern ich. Ich muss wieder aus meiner Komfortzone heraus..."

"Ist das wirklich so? Können Sie nicht gerade bei ihm eigentlich so sein, wie sie es sind? Nimmt er Sie nicht einfach so wahr? Mit all Ihren Facetten?"

"Ja, also eigentlich schon. Trotzdem fühlt es sich komisch an."

"Was fühlt sich komisch an?"

"Na ich habe mein ganzes Leben lang immer damit gekämpft jemand anderes zu sein, offener zu sein, nicht so schüchtern. Frei zu tanzen ohne Bedenken zu haben das jemand sonderbar schaut, und so weiter und so fort!" 

"Und jetzt, was ist anders?"

"Er nimmt mich einfach so..."

"Eben!"

"Aber warum?"

"Weil er Sie vermutlich liebt..." Er lächelt mich an. "Es ist immer einfacher, Dinge zu kontrollieren, genau zu interpretieren und abzuwägen bevor man sie tut. Und genau das ist Ihre Aufgabe in der nächsten Zeit. Den Dingen Ihren Lauf zu lassen!"

"Aber das ist schwierig!", sage ich etwas bockig. 

"Stimmt. Aber jetzt ist der Augenblick um anzufangen! Ich bin gespannt, was Sie auf dieser weiteren Reise noch alles erleben werden!" Er hält mir seine Hände hin. Ich zögere kurz, reiche ihm dann aber die meinen. Wie aus einem Impuls schließe ich die Augen. Das Gedankenchaos in mir beginnt sich zu setzen, zu sortieren, so dass ich alles klarer sehe und sich ein Weg vor mir formiert. 



Rezept auf UmwegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt