Kapitel 70 - aus Raiks Perspektive

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Ich betrete gerade das Gebäude der Praxis, als mir ein blonder Wirbelwind, der völlig vertieft in sein Handy ist, entgegenkommt und direkt gegen mich prallt. Ich habe große Schwierigkeiten meinen Kaffee zu retten und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass die junge Frau nicht den Rest der Treppe herunterstürzt. Ich halte sie am Handgelenk fest und schaue sie mir genauer an. 

"Amelie!", sage ich erstaunt. Auch Amelie schaut nach oben und zuckt, wohl unter der Intensität meines Blicks, zusammen. 

"Shit!", sagt sie nur leise und versucht ihr Handgelenk aus meinem festen Griff zu entziehen. 

"Aha!" Mein Blick verdunkelt sich und ich werde einen Teufel tun und sie loslassen. 

"Ich muss zur Arbeit!", sagt sie mit Nachdruck. 

"Muss sie nicht!", tönt es von oben. Max joggt lässig die Stufen nach unten. Amelie wird nun noch unruhiger und zerrt regelrecht an meiner Hand. "Danke fürs Festhalten! Wir beide haben noch etwas zu besprechen!", stellt Max fest. 

"Du vielleicht mit mir, aber ich nicht mit dir!", sagt Amelie entschlossen. Sie giftet es ihm regelrecht entgegen.  

"Also, ich würde ja vorschlagen, wir gehen jetzt ganz in Ruhe nach oben und reden mal ganz entspannt!", schlage ich mit einer sehr beherrschten aber sehr dominanten Stimme vor. Amelie zuckt wieder zusammen. Es gefällt mir, wie empfänglich sie für die feinen Zwischentöne ist. 

"Das ist doch mal eine gute Idee!", sagt Max und verschränkt die Arme über der Brust. 

"LASS MICH LOS!", zischt Amelie. Ich lasse ihr Handgelenk los, nur um sie an der Schulter zu umfassen und sanft entschlossen nach oben zu geleiten. "Das ist nicht fair. Ihr könnt mich nicht zwingen. Und außerdem ist mir schlecht", gibt sie zu. Ich mustere sie intensiv. Sie ist tatsächlich etwas blass um die Nase. 

"Dann gehen WIR beide jetzt mal in eines meiner Behandlungszimmer. Da kannst du in Ruhe etwas essen und Max kommt später, wenn du dich beruhigt hast, hinzu", stelle ich mit fester Stimme fest. "In Ordnung?", frage ich der Vollständigkeit halber. 

"Ihr könnt mich mal! Kreuzweise!", murmelt sie mit unterdrückter Stimme. Jedoch lässt sie sich ohne weiteren Widerstand in das größere der beiden Behandlungszimmer leiten. 

"Setz dich!", sage ich und deute auf einen bequemen Sessel. Sie schaut sich neugierig um. Ich hole solange ein Apfelschorle aus dem Kühlschrank und reiche es ihr. "Trink!" Sie öffnet mit zittrigen Fingern die Flasche und trinkt durstig. Ihre Gesichtsfarbe erholt sich. "Sehr gut!", murmle ich leise. Ich sehe, dass alleine durch diese Äußerung sich Amelies feine Härchen an ihren Unterarmen aufstellen. Es würde so einen Spaß  machen... schnell verbiete ich mir jeden weiteren Gedanken! 

"Muss ich jetzt wirklich hier bleiben, bis Max kommt?", fragt Amelie mit leiser Stimme.

"Wie geht es dir denn?", frage ich nicht gänzlich zusammenhanglos. 

"Gut!", gibt sie zurück. 

"Wenn du meine Sub wärst, würde ich dich für genau diese Aussage direkt übers Knie legen!", sage ich lapidar. Amelies Pupillen weiten sich bei dieser Aussage. Sie schluckt trocken. 

"Bin ich aber nicht!", gibt sie leise, aber doch auch mit etwas Trotz in der Stimme, zurück. 

"Stimmt. Nichts desto trotz habe ich dich vermisst!", gebe ich meine eigenen Gefühle zu erkennen. "Ich weiß nicht warum, aber ich mag dich." Amelie schaut mich nun völlig verdattert an.

"Ähm..." Es klopft an der Türe. Das wird wohl Max sein. Amelie schwankt sichtlich zwischen den Emotionen. 

"Herein!" Ich lehne mich auf meinem Stuhl zurück und genieße einen Schluck des erstklassigen Kaffees. Himmlisch. Max betritt den Raum und setzt sich in den anderen Sessel. 

"Du kommst hier nicht weg, bevor ich mit dir gesprochen habe!", beginnt Max schonmal steil. Das wird lustig werden. Ich genieße nochmal einen Schluck. Erstklassig! 

"Dann sprich doch", gibt Amelie zurück. Mit einem Tonfall, den sie sich mir gegenüber mit Sicherheit nicht trauen würde.

"Ich will, dass du die Spiegelung machen lässt. Nur so können wir dir helfen!", sagt er entschlossen. 

"Nö!", gibt Amelie zurück. "Bei dem Konsil haben wir etwas anderes besprochen und ich möchte auf den MRT - Termin warten. Nathan wird mir bestimmt demnächst Bescheid geben!" Wo sie recht hat... so viel Kampfesgeist habe ich ihr gar nicht zugetraut. "Außerdem möchte ich zuerst die alternativen Möglichkeiten ausschöpfen!"

"Amelie!"

"Nein, nicht Amelie! Ganz ehrlich, wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann wechsle ich eben den Hausarzt! Ich kann sicher auch an anderer Stelle regelmäßig Blut abnehmen lassen, um die Schmerzmedikamente nehmen zu können!"

"Wenn das dein Wunsch ist!"... gibt Max hochmütig zurück. Seinen Stolz hat er eben auch. "Du hast freie Arztwahl!" Ich verdrehe die Augen bei so viel Theatralik. Das hätte ja fast ich sein können. 

"Dürfte ich den Streithähnen etwas vorschlagen?", sage ich ruhig. 

"WAS!", fahren sie mich beide gleichzeitig an.  Ich hebe die Hände und muss mir ein Schmunzeln unterdrücken.

"Dürfte ich Einsicht in deine Akte nehmen, um mitsprechen zu können?" fragend schaue ich Amelie an. Sie überlegt, nickt dann aber. Ich öffne diese und gebe vor, sie noch nicht zu kennen. 

"Also, ich sehe, dass hier bei dem Konsil auch angedacht wurde, dass Amelie therapeutische Hilfe bekommt, richtig?", fragend schaue ich die beiden an. 

"Ich weiß nicht, was das bringen soll!", sagt Amelie und verschränkt die Hände über der Brust. 

"Das ist wichtig!", gibt Max zurück. 

"Da muss ich Max zustimmen. Das ist tatsächlich wichtig. Ich würde grundsätzlich auch mich selbst vorschlagen, da ich gut bin, aber das ist an dieser Stelle, glaube ich, nicht so passend. Allerdings hätte ich da eine Alternative. Dazu bräuchte ich von dir Max eine Krankschreibung für ein paar Tage."

"Denkst du an Jan?"

"Jap. Ich denke, dass die Betreuung durch ihn eine gute Möglichkeit wäre, um einen Startpunkt zu schaffen. Meiner Meinung nach ist es in Amelies Kopf noch gar nicht angekommen, dass sie tatsächlich krank ist und Unterstützung benötigt!"

Ich schaue zu Amelie, die sich auf die Lippe beißt. Tränen stehen in ihren Augen. Ich gehe zu ihr, hebe sie aus dem Sessel und platziere sie in meinem Schoß. Sanft drücke ich ihren Kopf gegen meine Brust. Wenig später lässt sie los. Ich halte sie einfach und lege eine Decke über sie, als sie eingeschlafen ist. Sanft hauche ich einen Kuss auf ihre Wange und gehe dann auch an die Arbeit. 


Rezept auf UmwegenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt