12. Kapitel - Der Besuch des Professors

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Obwohl Anne es erwartet hatte, schreckte sie hektisch auf, als an ihre Tür geklopft wurde.
„Dein Vater möchte Dich sprechen", rief Marianne und streckte ihren Kopf voll kastanienbrauner Locken zur Tür herein. Anne sah sie mit vor Angst geweiteten Augen an, in denen dicke Tränen glitzerten und Marianne sah sich rasch um, ob nichts in Reichweite war, was sogleich in Scherben fallen könnte. Dann besah sie sich das Häufchen Elend und eine Woge des Mitgefühls überkam sie.

Obwohl die Haushälterin noch keine 25 Jahre alt war, brachte sie der Tochter des Hauses mehr mütterliche Gefühle entgegen, als es die Gräfin je getan hatte. Niemand schenkte dem Kind je Aufmerksamkeit, Güte oder Lob, abgesehen vom Grafen, der aber stets einen Großteil des Jahres auf Reisen verbrachte. Also hatte sich Marianne ihrer angenommen und sich um das seltsame und unverstandene Mädchen bemüht. Anne dankte es ihr mit aufrichtiger Zuneigung und kindlicher Liebe und die beiden waren über die Jahre so etwas wie Freundinnen geworden. Jetzt aber blieb Marianne nichts anderes übrig, als ihre kleine Gefährtin zum hoffentlich wohlmeinenden Vater zu bringen, der alsbald über ihr ungewisses Schicksal zu entscheiden hatte.

„Viel Glück", gab sie ihr mit auf den Weg, als sie an der Tür zum Büro angelangt waren und Marianne konnte förmlich spüren, wie Anne das Herz bis zum Hals schlug. Mit einem tiefen Seufzer griff das Mädchen die Türklinke - so oder so, sie musste es hinter sich bringen - drückte sie herab und trat in die unheilschwangere Stille des väterlichen Büros. Sie fand dort den Grafen und seinen Besucher, einen großen Mann unschätzbaren Alters, mit langem grauen Haar und ebensolchem Bart, welche ihm bis zur Brust hinabreichten. Aus der Nähe betrachtet fiel ihr auf, dass der edle Stoff seines blauen Gewandes mit Goldfäden durchwirkt war und der Mantel mit silbernen Ornamenten bestickt. Blaue Augen blickten sie über eine halbmondförmige Brille hinweg eingehend an und Anne fühlte sich, als würde der Mann ihr bis tief in die Seele blicken.

„Das ist Professor Dumbledore aus Hogwarts", sprach ihr Vater sie an. Aber nach dem Wörtchen Professor drang nichts davon noch zu Anne durch. Professor, dieser Titel jagte ihr die Angst durch Mark und Bein, es könne sich wirklich um einen Arzt handeln, der sie abholen wollte, weil man sie für verrückt hielt. Schweißperlen traten ihr auf die Stirn und die kleinen Hände ballten sich zu verkrampften Fäusten. Gleich würde die hübsche chinesische Vase auf dem Kaminsims zerspringen oder die verspiegelte Glastür der Vitrine. Oder der Kronleuchter würde zu Boden stürzen. Etwas musste passieren, gleich war es so weit, da war sie sich sicher. Gerade als es ihr schwarz vor Augen zu werden drohte und ihr eigenes Blut mit der Lautstärke eines vorbeifahrenden Zuges in ihren Ohren rauschte, so dass sie kein Wort ihres Vaters mehr verstehen konnte, blickte sie erneut das unergründlich tiefe Blau dieses freundlichen Augenpaares an.

„Ich glaube, sie hat uns nicht gehört", sagte der Professor feststellend zum Grafen und die beiden starrten Anne aufrichtig besorgt an. Auf unerklärliche Weise wirkte der Gast des Grafen auf sie überaus beruhigend, ja fast tröstend, obwohl er bislang kein einziges Wort an sie selbst gerichtet hatte. Oder etwa doch? Anne wusste es nicht. Aber das Rauschen in den Ohren wurde wieder leiser, der hastige Atem beruhigte sich und alle Muskeln schienen sich ganz plötzlich zu entspannen. Als sie sich verstohlen umblickte, konnte sie erleichtert feststellen, dass alles im Raum heil geblieben war, keine Scherben, kein Staub, keine Zerstörung.

„Anne!" rief der Graf sorgenvoll.
„Ja Vater?", antwortete Anne, als sei sie gerade erst ins Zimmer getreten und nicht minutenlang wie angewurzelt mit glasigem Blick und nahezu hyperventilierend hier gestanden. Verwirrt sah der Graf seine Tochter an. Wo waren nur ihre Gedanken bis gerade eben noch gewesen?
„Der Professor möchte sich gerne mit Dir unterhalten."
Oh nein! Was sollte sie jetzt nur tun? Bestimmt wollte er mit ihr sprechen, um einschätzen zu können, wie verrückt sie tatsächlich war. Was, wenn sie sich falsch verhielt? Was, wenn sie einen schlechten Eindruck machte? Anne hatte keine Ahnung, wie eine Nervenheilanstalt aussah, oder was dort geschah. Aber sie hatte die Erwachsenen schauderhaft über solche Sanatorien berichten hören und in ihrer überbordenden Fantasie malte sie es sich in den dunkelsten Farben schrecklich und furchteinflößend aus.
„Vielleicht könntest Du mir dabei Euren sommerlichen Garten zeigen?"
Dies waren die ersten Worte, die der Professor zu ihr sprach. Jedenfalls glaubte sie das. Und wieder fühlte sie eine urplötzliche Erleichterung, die über sie kam, als würde eine Welle frischer, klarer Luft sie vor dem Ertrinken retten.
„Sehr gern", hörte sie sich höflich sagen. Möglicherweise hatte sie sogar standesgemäß vor dem Professor geknickst, sie konnte sich nicht erinnern.

Anne Eastwood und die magische Welt (Hogwarts Fanfiction)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt