Evelyns POV:
Wieso ich? Wieso immer ich? Verzweifelt ließ ich mich an der Wand hinabsinken und vergrub mein Gesicht in meinen Händen. Es war aussichtslos. Die Sackgasse zog sich über mindestens hundert Meter und am anderen Ende tauchte gerade eine Gestalt auf. Aus dem Kontext war zu schließen, dass es sich dabei um Liam handelte. Wieso konnte er mich nicht einfach in Ruhe lassen?
Die Schritte kamen näher und selbst mit verdeckten Augen konnte ich die Dunkelheit, die sein Schatten mit sich brachte, spüren. Erst als er nach meiner Hand griff, fiel mir auf, dass ich zitterte und fürchterlich fror. Der Regen war noch nie mein Freund gewesen, aber dass mich dieses Mistwetter so ausbrennen konnte, das hatte ich nicht erwartet. Die Kälte kommt sicherlich auch von ihm! Ich schauderte leicht und entzog ihm meine Hand. Fast hätte ich seine Hilfe angenommen, aber nur fast. Immerhin war er der Grund dafür, wieso ich hier war und nicht in der Schule oder sonst wo.
"Bitte .. Bitte lass mich in Ruhe. Bitte .." Ich wimmerte leicht und schlang beide Arme um meine Knie, während ich seinem Blick auswich. "Hau einfach ab." Die Worte kamen aus meinem Mund, ohne Zweifel. Wieso kamen sie mir dann so fremd und fern vor? Was war nur los mit mir? Oh bitte, lass mich träumen, Herr! Ich will nicht hier sein! "Steh auf. Du erkältest dich nur unnötig." Seine Stimme war hart, rau. Ungeduldig prassten seine Wörter mit dem Regen auf mich herab und der Druck, der sich auf mein Herz entfachte, wurde von Sekunde zu Sekunde unaushaltsamer. Ich wollte doch nur nicht zu spät zu Mathe kommen! Was sollte das?
Er musste wohl eingesehen haben, dass ich nicht antworten würde und für einen Moment wurde der Schatten kleiner und die Helligkeit rückte wieder bedeutend fröhlicher an mich heran, trotz der Gewitterwolken. Endlich nahm ich die Hände von meinem Gesicht, aber zu früh gefreut. Liam war gerade dabei sich sein durchnässtes Hemd auszuziehen und es mir umzulegen. "Es wird nicht helfen. Aber es zählt ja nur der Wille." Er sprach so voller Sorge, dass ich mich wie ein Narr fühlte. Seine Stimmungsschwankungen waren immens und und sein breites Grinsen bezaubernd. Er war wohl eindeutig wahnsinnig. Er kam immer näher an mich heran und wollte mir sein Hemd gerade um die Schultern legen, als ich es ihm aus der Hand riss und neben mich auf den Boden warf. "Lass mich einfach in Ruhe", zischte ich mit dem letzten Anflug von Mut, den ich aufbringen konnte. Hoffentlich würde es klappen.
Liams POV:
Sie war so klein, so ängstlich und so verletzlich - nein, verletzt. "Ich will dir nur helfen", meinte ich schlicht. Klar, ich wusste, wie ich mich immer aufführte, aber sie sollte meine Hilfe einfach annehmen und nicht dauernd nur Fragen stellen oder mich wegschicken. Dachte sie denn wirklich, das würde klappen? Das war nicht einmal in Filmen der Fall! "Ich will deine Hilfe nicht." Ihr Stimme war nur ein Wispern: klein und verloren in dieser Welt, so wie sie sich auch gerade fühlen musste, da war ich mir sicher.
Genervt hob ich sie hoch und sah über die Tatsache hinweg, dass sie wie wild mit ihren Händen fuchtelte und mit letzter Kraft versuchte, mich zu beißen. Aber sie war schlichtweg zu schwach. Mein Hemd sammelte ich noch im Gehen auf und legte es über meine rechte Schulter, während ich Evelyn an meinen nackten Oberkörper presste und durch den feuchten Vormittag bis zu meinem Wagen trug.
Als ich dort angekommen zu ihr herab blickte, hatte sie die Augen schon längste geschlossen. Sie schien zu schlafen, so kam es mir zumindest vor. Vorsichtig sperrte ich den Wagen wieder auf. Dann legte ich sie auf die Rückbank und versprach mir, vorsichtig zu fahren, damit ich sie nicht anschnallen musste, denn ich wollte ihr in diesem Zustand nicht unnötig zu nahe kommen.
Die Tür schloss ich leise und nachdem ich auf der Fahrerseite vorne eingestiegen war, tat ich das gleiche mit dieser Tür. Mit einem letzten Blick zu Evelyn am Rücksitz ließ ich den Motor warm laufen, schaltete die Scheibenwischer an und fuhr langsam durch die triste Stadt, an der Saint-Thomas High vorbei, immer weiter westwärts. Wir waren nie so weit gekommen, als dass sie mir schließlich doch die Adresse ihres Zuhauses genannte hatte, aber das war kein Problem. Ich würde sie einfach mit zu mir nehmen, bis sie wieder aufwachte. Ich konnte sie ja auch schlecht hier liegen lassen.
Evelyns POV:
Als ich durch ein leises Geräusch wach wurde, spürte ich sofort, dass ich nicht Zuhause war. Ich lag auf etwas Rauem. Ich versuchte meine Augen langsam zu öffnen, sie sollten sich an die Helligkeit gewöhnen, die im Raum herrschen würde. Aber es war dunkel. Die weinroten Vorhänge waren fast ganz zugezogen, nur eine kleiner, etwa fingerbreiter Spalt ließ einen fahlen Lichtstrahl in das Zimmer fallen. Meine nächste Entdeckung war die Bettdecke. Sie war das gewesen, was mir so rau vorgekommen ist. Einen kleinen Moment lang dachte ich darüber nach, wie es wohl wäre, hier jeden Tag wach zu werden.
Das Bett war mehr als nur riesig, zumindest von meiner Perspektive in der Mitte des Gestells aus. Die Bettdecke war in einem dunklen und einfachen Grauton gehalten. Die Farbe der Wände konnte ich nicht wirklich identifizieren, da sie in der Dunkelheit fast schwarz wirkten. Wer weiß? Vielleicht waren sie ja wirklich schwarz! Auf dem Bett lagen gerade mal zwei Kissen - ein riesiger Unterschied im Vergleich zu meinem Bett! Dort lagen mindestens zehn Kuscheltiere, drei Wärmflaschen und was noch wichtiger war: siebentausend Kissen und noch zwei weitere.
Leise seufzend drehte ich mich auf die andere Seite und mein Blick fiel auf den Spiegel, der in den wenge-farbenen Schrank integriert war. Das Holz war dunkel und umrahmte den Spiegel perfekt. Ich betrachtete die Person, die laut meinem Spiegelbild gerade dieses fremde Bett besetzte. Meine Haare standen wirr von meinem Kopf ab und waren total zerknautscht. Mein Gesicht wirkte schmäler, wie immer, wenn ich mich nicht so gut fühlte und meine Augen waren riesig. Es sah aus, als hätte ich gerade einen Horrorfilm-Marathon hinter mir.
Ich schlüpfte aus der Decke und schob sie sanft bei Seite, ehe ich mich vorsichtig erhob und überraschenderweise nicht einmal annähernd schwankte. Ich vertrat mir meine Beine gerade mal so lange, bis ich endlich vor dem Spiegel angekommen war. Wie lange hatte ich geschlafen? Meine Schminke war total verronnen und ich erinnerte mich daran, dass ich geweint hatte und dass ich gelaufen bin. Mit einem Schlag war alles wieder da!
Ich war vor Liam davongerannt, der mich mitten in einem Starbucks-Laden angemacht hatte. Ich hatte ihm eine geknallt! Dann bin ich gelaufen. Er hat mich gefunden. Ich hatte Angst, fürchterliche Angst. Er nahm keine Rücksicht. Er wollte mir sein Hemd geben. Sein Oberkörper war nackt. Ich habe ihn heimlich angestarrt. Er hat mich weggetragen. Ich war zu schwach. Tränen ronnen an meinen Wangen hinab. Wo war ich jetzt?
Unweigerlich schlich sich mir ein schlimmer Gedanke in den Hinterkopf. Er hatte mich hier her gebracht und würde mich nicht gehen lassen! Ich wusste nicht, wo genau wir hier waren, aber ich war mir sicher, dass Liam hier wohnte. Er war nebenan, das wusste ich auch. Und ich musste hier raus, das stand ebenfalls außer Frage. "Evelyn, bist du wach?!" Liam!
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What about you, Liam?
RomanceEines Tages begegnet Evelyn Liam Anderson, der sie fast überfährt. Von da an nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung. Zwei Welten, die unentschuldigt aufeinander einprassen. Was Evelyn da noch nicht wissen kann: Liam ist keineswegs so nett, wie er...