Evelyns POV;
Die nächste Woche verlieft wie im Flug. Liam versuchte jede freie Minute mit mir zu verbringen, er wurde überraschend zutraulich. Hielt meine Hand, entführte mich auf etliche Dächer der Stadt um den Sternenhimmel zu betrachten, brachte und holte mich von der Schule und nahm sich sogar ein wenig Zeit die Monster zufrieden zu stellen. Er war wie ausgewechselt. Es war, als wäre alles zuvor wie ein schlechter Traum gewesen.
Dennoch fiel mir auf, dass er kaum über sich sprach. Er war verschlossen, oft in Gedanken versunken und manchmal hatte ich das Gefühl, er würde mich besorgt ansehen. Als könnte mir jeden Moment etwas passieren. Als wäre ich irgend einer Gefahr ausgesetzt. So tat er das auch heute. Wir saßen im großen Sitzsack auf meinem Balkon. Adam war nicht hier, er wollte nicht mehr mit mir sprechen, als wir uns das letzte Mal über Liam zerstritten hatten. Adam dachte wohl immer noch, dass Liam nicht der war, für den er sich ausgab.
Meine Augen studierten sorgfältig sein Gesicht, malten das Piercing auf seinen Lippen nach, seine Wangenknochen, die sich heute gut präsentierten. Seine Augen wirkten wachsam, ruhelos. Sein Atem ging dennoch sanft und in leichten Wellen. Er schien einen Punkt in der Ferne zu fokussieren. Gesprochen hatte in den letzten zehn Minuten niemand von uns. Wir waren beide in Gedanken versunken. Eingerollt in eine warme Decke und angeschmiegt an Liams starke Schultern, wollte ich eigentlich den Sonnenuntergang genießen. Doch seine rastlosen Augen und diese plötzliche Zutraulichkeit ließen mich einfach nicht in Ruhe.
Vorsichtig löste ich mich aus Liams festen Griff, kuschelte mich lockerer an ihn und hob meinen Blick. "Geht es dir gut?", fragte ich leise in die Stille hinein und Liam riss seinen Blick aus der Ferne und begab sich mit einem schwachen Nicken wieder zu mir in die Gegenwart. "Mir geht es gut", erwiderte er sanft und schenkte mir ein leichtes Lächeln. Wie auch sonst so oft schien sein Lächeln jedoch kaum seine Augen zu erreichen. Lügt er mich an? Wieso sollte er das machen? Ich konnte diese Fragen nicht vermeiden. Vielleicht war er einfach nur müde oder wollte nicht so viel Zeit mit mir verbringen. Ich wusste es nicht - er würde es mir wohl auch nicht sagen.
Es wurde wieder leiser und ich beschloss, endlich die Frage neu aufzurollen, die schon die ganze Woche auf meiner Zunge brannte. "Wo warst du letztens, Liam?" Sichtlich verwirrt musterte er mein Gesicht, er wusste nicht, wovon ich sprach. Seine Stirn schlug leichte Falten und sein Kiefer spannte sich bei meinen nächsten Worten sichtlich an. "Du wolltest mich doch sehen letztens. Aber du bist nie aufgetaucht. Du warst einen ganzen Tag wie vom Erdboden verschluckt." Ich bemerkte die Spannung in der Luft sofort, sein Blick schweifte kurz ab, ehe er mich wieder direkt ansah. "Wieso musst du das unbedingt wissen?", hakte er rau nach. Plötzlich fühlte sich alles kälter an, Liam wirkte wieder ein wenig distanzierter. Es war, als hätte ich etwas bestimmtes gesagt, dass ihn zurückschrecken ließ.
"Ich weiß es nicht .. Ich, wieso nicht? Kannst du es mir denn nicht einfach sagen?", flüsterte ich rau. "Ist ja nicht so, als würdest du abtauchen und kriminelle Dinge machen", sagte ich mit einem leichten Lächeln in der Hoffnung die Stimmung zu erhellen. Liam hingegen wirkte nun nur noch aufgewühlter. Und plötzlich ganz kalt. Abwesend blickte er in die Ferne, seine Gedanken schienen tausende Kreise zu schlagen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit wanderte sein Blick schließlich wieder zu mir und er erhob sich seufzend. "Ich muss jetzt los", murmelte er angespannt und sah mich an. Seine Augen waren noch immer wachsam, sein Kiefer noch immer unter Spannung. Leichtfüßig erhob ich mich und blieb dann vor ihm stehen. "Hab ich was falsches gesagt, Liam?" Ich verstand die Welt nicht mehr. Ich hatte ihn doch nur gefragt, wo er war. Wieso macht er so ein Geheimnis daraus? Wieso verhält er sich so abweisend? Gerade war doch noch alles gut.
Seufzend strich er mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Seine Augen wurden weicher, fast schon ein wenig wehmütig und er schüttelte nur seinen Kopf. Mein Gesicht in seinem Fokus öffnete er seine Lippen mehrmals und setzt zum Sprechen an, ehe er aber doch wieder schwieg. Eine weitere Minute verstrich, ehe er wirklich zu Sprechen begann. "Je weniger du über mich weißt, desto besser ist es, Evelyn." Irritiert funkelte ich ihn an.
"Was soll das jetzt auf einmal? Warum sagst du das?!" Ich spürte die Wut in mir hochkochen. Diese Woche war doch so gut gewesen. Wir hatten uns verstanden und nun verhielt er sich schon wieder so komisch. Warum tat er das? "Erzähl mir doch einfach was los ist. Ich will doch auch mehr über dich wissen, Liam. Nicht nichts. Ich möchte alles wissen. Dich kennenlernen. Dir nicht nur körperlich nahe sein." Ich wollte doch wissen, wer er war. Was ihm ausmachte. Nicht nur, wie gut er küssen konnte. Er durfte doch auch so viel über mich wissen. Versuchte mir meine Höhenangst zu nehmen. Brachte mich zur Schule, wo uns alle sehen konnten. Das tut doch niemand, der einem nicht näher kommen möchte. "Ich möchte doch nur wissen, wer du bist", flüsterte ich leise.
Ein raues trauriges Lachen kam aus seiner Kehle, kaum lauter als ein Räuspern. Er wirkte mir plötzlich so fern.
Liams POV;
Ich konnte spüren, wie der Knoten in meinem Hals anwuchs. Da war es. Ich wusste, sie würde nicht locker lassen. Wieso konnte ihr das nicht einfach egal sein? Dann war ich einmal nicht da, na und? Wo war das Problem? Sie würde die Wahrheit doch eh nicht verkraften können. Sie würde mich nie mehr wieder sehen wollen. Wer wollte schon Zeit mit jemandem verbringen, der seine Freunde falsch gewählt hat? Der nicht den guten Weg gewählt hat. Wie soll man sich eine Zukunft mit jemandem aufbauen, der teilweise tagelang verschwindet?
Ich wusste, dass es egoistisch von mir war, mich mit Evelyn zu treffen. Sie zu umwerben und Zeit mit ihr zu verbringen. Wissend, dass ich wieder einmal verschwinden würde. Wissend, dass ich sie am Ende nur verletzen würde. Dass ich sie in Gefahr bringen könnte. Vermutlich bereits hatte.
Der Knoten in meinem Hals war nun kaum noch zum Aushalten und ich sah sie wehmütig an. "Glaub mir, du willst diese Person nicht kennenlernen", erwiderte ich harsch und rau und doch ein wenig traurig. Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. "Du würdest weglaufen. Mich nie mehr wieder sehen wollen", ich wandte meinen Blick von ihr ab und wich einen Schritt zurück, ehe ich sie wieder sorgfältig ins Visier nahm.
"Ich bin kein guter Mensch, Evelyn. Und ich werde wohl auch nie einer sein. Dieser Zug ist schon lange abgefahren", flüsterte ich und zog mir meine Kapuze über, ehe ich auf den Ast neben dem Balkongeländer stieg und nach unten kletterte. Ich musste hier weg. Das hier ging mir schon viel näher, als ich es geplant hatte.
"Liam, warte! Was redest du denn da?" Evelyn stand am Geländer, in ihren Augen stand pures Unverständnis, das wusste ich. Deshalb würde ich mich auch nicht umdrehen. "Lass uns doch einfach darüber reden. Komm zurück. Bitte." Ihre letzten Worte waren kaum mehr als ein Flüstern und ich schüttelte nur erneut meinen Kopf, ehe ich mich zusammennahm und sie noch einmal kalt anblickte.
"Du solltest keine Zeit mit mir verbringen, Evelyn. Ich bin ein Egoist, ich bringe dich nur in Gefahr. Du bist viel zu intelligent, um dir das anzutun. Tu uns beiden einen Gefallen und lauf doch lieber weg, so lange du noch kannst."
Mit diesen Worten ließ ich sie stehen. Es würde eine weitere Woche vergehen. Eine Woche, in der Evelyn mich oft anrufen würde. Mir viele Nachrichten hinterlassen würde. Mir auch wütende Nachrichten hinterlassen würde. Bis sie schließlich aufhören würde Nachrichten zu senden. Mich in Ruhe lassen würde.
Und schließlich am Ende der Woche mein Leben retten würde.
DU LIEST GERADE
What about you, Liam?
RomanceEines Tages begegnet Evelyn Liam Anderson, der sie fast überfährt. Von da an nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung. Zwei Welten, die unentschuldigt aufeinander einprassen. Was Evelyn da noch nicht wissen kann: Liam ist keineswegs so nett, wie er...