Evelyns POV:
Ich war wirklich enttäuscht von mir. Warum hatte ich mich einfach küssen lassen? Es war mittlerweile schon fünf Minuten her, dass Liam mich vor die Tür geschoben hatte. Aber ich stand immer noch da, eng in seine Jacke gekuschelt, mit trockenem Lippen und dem Bedürfnis mich selbst ohrzufeigen.
Vielleicht sollte ich noch einmal mit ihm reden. Ich griff gerade nach der Türklinke, als mir wieder ein leichtes Pochen durch mein Handgelenk schoss. Nein, ich würde nicht zu ihm zurückgehen! Nicht nach dem, was da gerade passiert war! Schnell drehte ich mich um und suchte nach dem Stiegenhaus, das um die Ecke lag. Ich hastete eilig die Treppe nach unten und dabei hätte es mich fast auf die Nase gelegt.
Draußen raste ich in Richtung Verkehr und wollte gerade die Straße überqueren, als ein Wagen mit voller Geschwindigkeit an mir vorbeiraste. Um ein Haar hätte es mich erwischt. Der Fahrer hupte noch ein paar Mal wütend, ehe er schließlich in der Ferne verschwand. Meine Hand aufgeregt an meine Brust gepresst, drehte ich mich um und spähte auf das Wohngebäude. Liam stand am Fenster. Er beobachtete mich und verzog keine Miene, als er meinen Blick auffing. Ich erschauderte kurz bei dieser ewigen Kälte und zog die Jacke enger um mich. Sein Schmunzeln entging mir nicht. Ich muss hier weg!
Blitzschnell drehte ich mich um und wollte meinen Weg fortsetzen, als das zweite Auto vorbeisauste. Langsam drang mein erschreckter Aufschrei zu mir durch. Ich riss mich zusammen, atmete tief durch und ließ meinen Blick nach links und auch nach rechts wandern. Nachdem ich mich dessen versichert hatte, dass die Luft rein war, überquerte ich die Straße. Als ich mich dieses Mal zu dem Haus umdrehte, war Liam nicht mehr da. Das Fenster und die Vorhänge waren unverändert zurückgeblieben, nur er fehlte.
Schnell suchte ich den Ausgang nach einem Lebenszeichen ab und tatsächlich: Liam verließ gerade das Gebäude. Sein Blick fiel zu mir hinüber und er lächelte charmant. Er wirkte wieder so besorgt und jung, wie bei dem Unfall, als ich ihn das erste Mal angesehen habe. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck irgendeiner Rockband. Als er näher kam fiel mir auf, dass es sich um ein Nirvana-Shirt handelte. Zugegeben, ich liebte deren Logo. Diesen gelben Smiley mit den beiden 'X'en als Augen und der herausgestreckten Zunge. Er brachte mich immer zum Lächeln. Nur heute nicht.
Liam schritt immer näher an mich heran und holte langsam aber sicher auf. Die Hände hielt er in seinen Hosentaschen verborgen und seine breiten Schultern machten ihn nur noch attraktiver. Sein Piercing glänzte im gleißenden Sonnenlicht und seine Tattoos vollendeten das Bild. Das Wetter war im Vergleich zu heute Vormittag erheblich besser geworden und das war auch gut so.
Ich spielte mit dem Gedanken vor ihm wegzulaufen, aber ich hatte das Gefühl, dass er mich sowieso nur wieder einholen würde. Also blieb ich einfach stehen. Weit wäre ich ja sowieso nicht gekommen, so erschöpft, wie ich es war. Als er nur noch fünf Meter von mir entfernt war, begann mein Herz unregelmäßig schnell zu pochen und meine Handflächen wurden feucht. Warum bin ich nicht einfach weggelaufen? Das ist einfach schon wieder so dumm von dir, Evelyn! Eingeschüchtert musterte ich seine antrainierten Muskeln und mir wurde wieder leicht mulmig.
"Hörst du mir überhaupt zu?" "W-Was? Ich, ehm .." Sein Blick folgte meinem und er blickte auf seine Arme, ehe er mir ein süffisantes Lächeln schenkte. "Baby, findest du das wirklich so beeindruckend?" Grinsend kam er einen Schritt auf mich zu und aus einem Reflex heraus wich ich einen weiteren Schritt zurück, ehe ich über eine Parkbank zu stolpern drohte und schließlich darauf landete. Ich wollte gerade wieder aufstehen, als Liam mich sanft zurückdrückte und ein strenges "Bleib sitzen" von sich gab.
Mir blieb fast der Atem stehen, als er sich neben mich hinsetzte und seinen Kopf leicht schieflegte, während er mich misstrauisch beäugte. "Ist was?" Meine Stimme war ziemlich kurz angebunden und klang auch sehr abweisend. Das war ja schon einmal ein guter Anfang!
"Ja, allerdings." Er machte keine Anstalten mich zu berühren oder mir lästig zu werden. Es schien, als wäre er wirklich dazu bereit normal zu reden. Oder lag das nur daran, dass hier hin und wieder eine Menge Autos vorbeidüsten? So zum Beispiel jetzt! Und jetzt! Und- "Evelyn?"
"Ja?" Ich wusste, dass er mich beim Nachdenken ertappt hatte und ebenso spürte ich, dass ich errötete. Sein leises Lachen bestätigte mir das auch noch. "Woran denkst du?" "Ich .. denk an gar nichts. Ich hab nur gerade bemerkt, wie oft hier Autos vorbeikommen, wo ich doch selbst noch nie hier war." "Daran denkst du, wenn du hier neben mir sitzt?" Ich nickte kurz. Es stimmte ja teilweise. Ich hatte ihn nicht angelogen. Ich konnte ja nicht einmal gut lügen!
"Und woran denkst du noch?" Leicht geschockt von seiner Frage sah ich zu hoch und druckste ein wenig herum, ehe ich ihn schließlich meine Antwort hören ließ. "Ich frage mich, was genau bei dir falsch läuft. Und ich frage mich, warum du mich geküsst hast." Er nickte kurz, schien über das Ganze nachzudenken und mir kam es so vor, als würde er überlegen, ob er mir auch wirklich antworten solle. Vermutlich hatte er sich ein Herz gefasst, denn er begann zu sprechen.
"Sagen wir einfach ich bin nicht so wie du." "Das ist mir auch schon aufgefallen", gab ich knurrend zur Antwort. Liam lachte amüsiert. "Siehst du? Ich lüg dich nicht an. Das ist doch schon mal gut." Wollte er hier jetzt ernsthaft einen auf Mr. 'Ich bin ja so witzig' machen? "Tut mir leid." Naja, zumindest schien ihm aufgefallen zu sein, dass er es vergeigt hatte. "Ich würde einfach mal behaupten, dass ich nicht so eine tolle Vergangenheit habe. Versteh das jetzt nicht falsch, ich meine: Meine Eltern waren klasse. Aber die Dinge liefen leider nicht so, wie sie für einen normalen Jungen laufen sollten."
"Und wieso hast du mich geküsst?", fragte ich schnell. Ich wollte nicht in Mitgefühl verfallen. Ich wollte keine Sympathie für ihn hegen. Er hat mich immerhin in diesem Café vorhin ziemlich dumm dastehen lassen. Wobei .. War es wirklich so schlimm gewesen? Ja, verdammt! Es war schrecklich, Evelyn! Hör auf dir etwas anderes einzureden! Ich hatte recht. Ich durfte nicht so denken.
"Ich habe dich geküsst, weil ich dich küssen wollte. Und ich will dich auch jetzt noch küssen." Ich umklammerte krampfhaft mein Handgelenk, da ich hoffte, dass das hier nur ein Traum war. Aber der Schmerz war real, ebenso wie Liam und seine Worte. "Was machst du denn da? Lass den Unfug!" Sichtlich sauer griff er nach meiner Hand, löste die Finger sanft von meinem Handgelenk und verschränkte sie stattdessen mit seinen Fingern. "Liam, lass mich bitte los." "Erst, wenn du mir sagst, was dein Problem ist."
Es reichte! Was bildete er sich eigentlich ein? Dachte er, er würde mich mal eben fast umfahren und ich würde ihm dann alle meine Probleme anvertrauen oder was? Und überhaupt: Was mein Problem war?! Also echt! "Du bist mein Problem, Liam! Du, der du hier neben mir sitzt! Du fährst mich fast über den Haufen, betatscht mich, entführst mich, bringst mich zum Weinen, küsst mich und verletzt mich und jetzt willst du mich wieder küssen?! Du bist mein gottverdammtes Problem, ok?!" Wütend sprang ich auf und wollte weglaufen, aber seine verschränkten Finger gaben einfach nicht nach und seine braunen Augen ruhten fesselnd auf meinem Gesicht.
Langsam stand er auf und blickte zu mir herab. "Dann zeig mir doch, wie ich es richtig machen kann. Bring mir bei zärtlich zu sein und sag mir, was ich falsch mache. Aber lauf bitte nicht weg." Seine Augen weiteten sich etwas und ich konnte seinen Blick nicht deuten. "Wieso sollte ich das machen?", fragte ich ihn leise und er senkte seine Schultern, während er seufzte. "Weil ich es satt habe so zu sein." Zart und vorsichtig löste er seine Hand aus meiner, nur um sie dann mit seiner zweiten an jeweils eine meiner beiden Wangen zu legen und sich zu mir herabbeugen. "Liam..", protestierte ich nahezu lautlos. "Vertrau mir einfach." Seine braunen Augen schlossen sich und meine taten es ihm gleich. Sein Atem kam meinen Lippen immer näher.
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What about you, Liam?
RomanceEines Tages begegnet Evelyn Liam Anderson, der sie fast überfährt. Von da an nimmt ihr Leben eine dramatische Wendung. Zwei Welten, die unentschuldigt aufeinander einprassen. Was Evelyn da noch nicht wissen kann: Liam ist keineswegs so nett, wie er...