31 back to you

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"An machen Tagen  ist er der Poet,

an anderen mein Gedicht.

Und an allen Tagen

da ist er die Liebe."

o

Evelyns POV;

Der Wind wehte noch immer kalt durch die Stadt und brachte eine Unsicherheit mit sich, die ich so nicht kannte. Liam war nun schon seit Stunden fort und ich sorgte mich sehr um ihn. Die Tatsache, dass er mir einfach nicht erzählen wollte, womit er sein täglich Brot verdiente, ließ mich stutzig werden. Die übelsten Fantasien bahnten sich ihren Weg durch meine Gedankengänge, schlugen kleine Saltos und nisteten sich in allen Ecken ein. Mein Kopf war so voll und doch so leer. Ich wusste einfach nicht, wohin mit mir. Wie ich das alles einordnen sollte.

Der Schultag verging viel zu langsam, die Pausen waren viel zu laut und mein Handy blieb viel zu dunkel. Keine neuen Nachrichten. Ich versuchte mich abzulenken und hörte mir die Neuigkeiten von Claire und Ashley an. Leider kam ich nicht darum herum, Claire zu erzählen, was zwischen Liam und mir vorgefallen war. Natürlich nicht die ganze Wahrheit. Aber sie wusste nun, dass er mich einmal stehen gelassen hatte. Und sagen wir es einmal so .. Sie konnte sehr viele neue Schimpfwörter, von denen ich nichts wusste. Aber sie versuchte neutral zu bleiben. Zumindest mir zu Liebe, das wusste ich.

Den Nachmittag verbrachte ich weitestgehend mit Adam in der Mall, ehe ich mich mit Chuck im Park traf. Er hatte sich bei mir gemeldet und mir Bescheid gegeben, dass Liam ihn wohl als eine Art Aufpasser für mich engagiert hatte. Ich musste die Beziehung der beiden wohl wirklich nicht verstehen. Ich persönlich glaubte ja, dass die beiden sich einfach manchmal zu viel wurden. Aber das war nicht mein Kaffee.

Ganz anders stand es da um den mit Karamell versetzten Latte Macchiato, den mir die Barista gerade über den Tresen reichte. "Dankesehr!" Ich schenkte ihr mein liebstes Lächeln und fand meinen Weg zurück zu Chuck. Er trug einen warmen Mantel und einen Schal, eine Hand tief in seinen Taschen vergraben, die andere wärmte sich seinerseits an einem Kaffeebecher. "Ich verstehe nicht, wie du dieses süße Zeug trinken kannst", meinte er leicht angewidert und lachte dann leise, als ich nur mit den Schultern zuckte.

"Ich hab einen Zuckerschock seit 2015, ich bin das also gewohnt", stimmte ich in sein Lachen mit ein und wir schlenderten am Rand des kleinen Teiches entlang, der den Park verschönerte, während wir für eine Weile vor uns hin schwiegen. Ich wusste nicht, ob ich Chuck auf den gestrigen Tag ansprechen sollte. Er würde mir ja doch nichts erzählen. Also beschloss ich erst einmal abzuwarten und stattdessen andere Nachforschungen anzustellen.

"Sag mal, woher kennst du Liam eigentlich?" Aufmerksam ließ ich meinen Blick über den Park schweifen, während ich den Kaffeebecher ein wenig enger in dieser Kälte umklammerte. Sofort fielen meine Gedanken zurück zu Liam, der mich nun vermutlich zu sich gezogen hätte, um mir ein wenig Wärme zu schenken. Aber er war nicht da. Er war irgendwo. Und ich musste einfach warten, bis er zurück kam.

Chuck lächelte. Er schien ein wenig in Erinnerungen zu schwelgen, als er sich schließlich auf eine  freie Parkbank setzte und mich einladend ansah. Ich setzte mich zu ihm und wartete gespannt seine Antwort ab. "Ich kenne Liam jetzt schon seit 6 Jahren", begann er langsam. Seine Züge waren sanft. Ich bemerkte sofort wieder, wie besonders das Band der beiden war. Als wären sie Brüder. "Liam hatte gerade eine schwere Zeit hinter sich. Seine Mutter war erst vor kurzem verstorben." Er hielt kurz inne und sah mich dann nachdenklich an.

"Ich will dir nicht zu viel erzählen, das ist nicht mein gutes Recht", murmelte er vorsichtig und sah dann wieder in die Ferne. "Auf jeden Fall war ich selbst ein Jahr zuvor von Zuhause weggelaufen. Meine Situation Zuhause war alles andere als ideal und ich wollte nur weg. Und nachdem ich ein Jahr mit Sinnlosigkeiten verschwendet hatte, traf ich auf Liam." Sein Blick wurde sanfter und er wirkte fast schon ein wenig wehmütig. "Mir war sofort bewusst, dass er keinen Platz zum Schlafen hatte. Seine Kleidung war schmutzig und er hatte diesen wilden Blick. Als wäre er in einer Art Tunnelmodus. Als würde er einfach nur funktionieren, ohne Plan und ohne Ziel."

Ich spürte wie sich die Härchen auf meinen Händen aufstellten und spannte mein Kiefer daraufhin leicht an. "Und was ist dann passiert?", hakte ich schließlich leise nach, als ich bemerkte, dass Chuck nun völlig seinen Gedanken erlegen war.

Er raffte sich ein wenig auf und lächelte mich dann verzerrt an. "Dann hab ich ihn bei mir aufgenommen. Und von diesem Moment an haben wir uns gemeinsam durchgeschlagen. Bis heute." Seine letzten Worte waren leise, er war schon wieder in seiner eigenen Welt. Ich beschloss nicht weiter nachzufragen und blieb stumm neben ihm sitzen, während ich den wenigen Enten zusah, die gerade von einer jungen Mutter mit ihrer Tochter gefüttert wurden. Sie wirkten so unbekümmert, sie lebten einfach so vor sich hin. Sie waren so unbekümmert. Das musste schön sein.

Die beiden erinnerten mich unweigerlich an Chucks Geschichte. Ich versuchte mir Liam mit seiner Mutter vorzustellen. Als kleines Kind. Wehmut legte sich über mein Herz bei dem Gedanken daran, dass er sie verloren hatte. Und dass er alleine war. Ich fragte mich, wie lang er wohl schon so zurückgezogen lebte. Und was damals passiert war. Doch der Wind pfiff weiter durch die Bäume und ich beschloss diesen Gedanken loszulassen. Für den Moment.

Liams POV;

Ich war gerade auf dem Weg Nachhause von Birmingham. Die Straßen waren dunkel, die Landschaft versank im Schnee. Es war still. Es war, als wäre die ganze Welt von dieser leichten Decke umgeben, eingebettet und friedlich schlafend. Doch je leiser die Straßen wurden, desto lauter wurden nun auch meine Gedanken.

Ich hatte meinen Auftrag erledigt. Ich war nicht stolz darauf, aber es war nun einmal mein Job. Einer, der mich am Leben erhielt. Der mir meine Wohnung finanzierte und der mich damals aus meiner Misere gerettet hatte. Chuck hatte mir eine Nachricht geschickt, Evelyn war bei ihm. So sehr ich es auch leugnen wollte, ich wusste dass sie bei ihm am besten aufgehoben war, so lange ich nicht da war. Und das würde ich jederzeit in Kauf nehmen.

In London angekommen, erledigte ich meine letzten Aufgaben und parkte dann schließlich vor Chucks Haus. Kurz nach dem ich geklingelt hatte, stand Chuck in der Tür und blickte mich prüfend an. "Und?" Ich nickte nur leicht und er seufzte erleichtert, ehe er einen Schritt zur Seite wich. "Willkommen Zuhause, Liam. Evelyn ist im Wohnzimmer." Er wusste natürlich, dass ich gleich zu ihr wollte. Ich wollte nicht mehr an Birmingham denken. Nicht in ihrer Gegenwart. Ich wollte besser sein. Ich musste besser sein. Nur wusste ich noch nicht, wie ich das machen sollte.

"Liam?" Evelyns sanfte Stimme weckte mich aus meiner Starre und sie erschien schließlich im Türrahmen. Ein erleichtertes Lächeln spannte sich über ihr Gesicht und ich zog sie sanft in meine Arme, ehe ich ein leises "Ich hab doch gesagt, dass ich bald wieder da bin", gegen ihr Ohr hauchte. Sie nickte kaum merklich und drückte mich näher an sich heran. Ein sanftes Lächeln glitt auf meine Lippen. Ich war glücklich. Glücklich darüber, Nachhause zu kommen und jemanden zu haben, der auf mich wartete.

"Wie war dein Tag?", frage ich sie vorsichtig, als wir uns lösten und reichte ihr ihre Jacke, die ich vor wenigen Sekunden vom Kleiderhaken der Garderobe genommen hatte. "Gut, danke. Ich war mit Chuck im Park. Wir haben ein wenig geredet." Ich nickte leicht und schenkte Chuck ein schwaches Lächeln. "Danke, dass du auf sie aufgepasst hast." Er gab ein leises "Klar" von sich, ehe er sich nachdenklich am Hinterkopf kratzte. "Hat mir keine Umstände gemacht." Mit einem zerstreuten Lächeln wandte er sich von uns ab und öffnete bereits die Haustür.

Evelyn schenkte ihm ihrerseits ihr wärmstes Lächeln und umarmte ihn noch einmal, ehe sie mit einem "Danke, Chuck. Ich hatte wirklich Spaß heute" aus der Tür verschwand. Chuck und ich tauschten einen kurzen Blick aus und dann brachte ich Evelyn zu mir Nachhause. Sie bestand darauf, heute bei mir zu bleiben. Ihre Mum - und Jeff - waren nicht Zuhause und sie hatte ihnen erzählt, dass sie sowieso bei Claire übernachten würde. Mir war es recht. Ich wollte nicht mit meinen Gedanken alleine sein.

Also fuhren wir zu mir. Und wir hörten Nirvana. Da saß sie nun wieder. Die Füße angewinkelt am Sitz, ihre Lippen bewegten sich zum Songtext von "Polly" und dieses Mal genoss sie meine Nähe. Komisch, wie sehr sich eine Situation in solch kurzer Zeit verändern konnte.

Und Birmingham rückte für diesen einen Moment in weite Ferne.

What about you, Liam?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt