9 a shaky throne

1.5K 71 16
                                    

Evelyns POV:

Ich stand vor der Tür, trommelte kurz auf die Klinke, die ich eigentlich gerade öffnen wollte. Aber irgendetwas sagte mir, dass ich mich zuerst beruhigen sollte. Mein Herz schlug mir bis zum Hals und meine Handflächen waren so feucht, dass ich befürchtete an der Klinke abzurutschen, wenn ich die Tür öffnen  wollte. Und dann war da noch mein Hals. Ich konnte meiner Familie in diesem Zustand unmöglich gegenüber treten.

Unsicher biss ich mir auf die Lippe, wohl leider ein wenig zu fest. Mein Speichel schmeckte ein wenig blutig und es fühlte sich so an, als hätte man mehrere kleine Fetzen dazugemischt, weshalb ich erst einmal schwer schlucken musste. Natürlich hatte ich Angst vor Liam. Nur gerade jetzt, nach dieser Autofahrt mit ihm schienen die vergangenen Stunden so weit weg zu sein.  Ich zuckte kurz zusammen, als ich ein Auto vorbeifahren hörte. Als ich mich umdrehte, war er weg. Und obwohl mich das überraschen sollte, tat es das nicht. Es passte zu ihm und seiner unberechenbaren Art. Es passte zu seinen wilden Küssen und seinen unkontrollierten Handlungen. Es passte zu seiner Wandlungsfähigkeit und zu seinen beiden Persönlichkeiten. Es passte einfach.

Sofort stürmte ich ins Haus und versuchte mich leise die Treppe nach oben zu schleichen. "Oh, kommt unsere Prinzessin auch wieder einmal nach Hause?", fragte Adam lachend und schob seine Hände lässig in seine beiden Hosentaschen. Irgendwie erinnerte mich das ein wenig an Liam. Er grinste schelmisch und boxte mich spielerisch gegen die Schulter. Ich verdrehte kurz meine Augen und stimmte in Adams Lachen mitein. Ich war froh, dass wir uns eigentlich relativ gut verstanden. Bei meinen Freundinnen und ihren Geschwistern lief das Ganze nämlich nie so geschmeidig ab, das fiel mir auch jedes Mal auf, wenn ich Ashley oder Claire oder sogar Ralph besuchte.

"Wo ist Mum?", fragte ich dann schließlich und hoffte auf eine gute Antwort. "Im Wohnzimmer, mit Jeff." Jeff. Na super. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Jeff war unser 'neuer Vater'. Unsere Eltern hatten sich schon getrennt, als Adam und ich noch klein waren. Wir hatten es akzeptiert und pendelten manchmal zwischen den beiden hin und her. Mittlerweile waren schon wieder einige Jahre vergangen und Mum hatte Jeff kennengelernt. Er war ein netter Kerl und auch nicht gerade uncool, aber er war eben nicht mein Vater. Deswegen wollte ich ihn nicht akzeptieren. Für mich war er einfach nur ein langweiliger Spießer, der meiner Mum hinterherlief wie ein Schoßhündchen. Überflüssig und unnötig.

Ich erinnerte mich kurz daran, wie ich einmal zu Mum gesagt hätte, dass sie sich keinen neuen Mann suchen musste. Wir wären ohne ihn genauso gut, wenn nicht sogar besser an. Für mich gab es immer nur Mum und Dad. Und keinen Jeff oder Tom oder Paul oder wie ihre ganzen Verflossenen hießen, die hier einer nach dem anderen antanzte und sich als 'Dad' vorstellen wollten. Doch mit Jeff schien sie endlich auf Gold gestoßen zu sein - ihrer Meinung nach.

"Ich glaube ich sollte mal zu ihr gehen", meinte ich rasch und lächelte Adam aufgesetzt an. Gerade als ich an ihm vorbeigehen wollte, stutzte er leicht. "Alles in Ordnung bei dir, Dummkopf?" Er schüttelte nur abwehrend seinen Kopf und sah mich prüfend an. "Das selbe könnte ich dich fragen, du siehst aus, als hättest du alleine einen Tornado durchquert."

Plötzlich kam es mir so vor, als würde die Luft hier im Raum dünner werden. Adam konnte einen richtig verhören, wenn er wollte. Und da ich in solchen Situationen nie etwas sinnvolles von mir geben konnte - keine Ahnung weshalb - starrte ich ihn kurz an und musste dann nervös lachen. "Adam .. Ich, ehm .. Hab nur die Schule geschwänzt", rasselte ich schnell meine kluge Antwort herunter und sofort lief ich an ihm vorbei, die Treppen nach oben in mein Zimmer, wo ich mich unter zehn Kissen und einer Menge Scham versteckte.

Adam hatte mir noch irgendetwas nachgerufen, aber ich ignorierte ihn einfach und ließ mich verzweifelt auf mein Bett fallen. Es dauerte keine fünf Minuten, da hörte ich schon das vorsichtige Klopfen an der Tür. Ob Adam es ihnen erzählt hatte? Das bezweifelte ich. Eine falsche Ratte war er dann doch wieder nicht. "Nein, Jeff. Ich will nicht reden! Mum soll endlich aufhören zu meinen, sie könnte mich dazu bringen, mit dir zu reden." "Schätzchen ..", ertönte es leise hinter der Tür. Mum. War ja klar, dass sie Jeff begleiten musste um uns belauschen zu können.

"Evelyn, lass uns rein. Deine Mutter und ich machen uns Sorgen." Jeff versuchte es mit einer Methode mit der man nicht einmal kleine Kinder hätte überreden können. "Dann hab ich gute Nachrichten für euch! Müsst ihr nicht. Ich hol nur eben meine Sachen", rief ich zuckersüß zurück und verdrehte meine Augen. Wahllos schmiss ich ein paar Klamotten in eine meiner Taschen, sauste zur Tür und öffnete sie. Mum starrte mich geschockt an. Sie hatte kurze blonde Haare, die ihr, wenn sie müde war, von allen Seiten abstanden. Im Moment war das auch der Fall. Sie schien völlig überfordert mit der Situation zu sein.

Aber das war sie mittlerweile schon seit 12 oder mehr Jahren. Seit Dad weg war! Wie ich ihn gerade vermisste. Er hätte mir sicher geholfen. Ich sehnte mich völlig nach seinem 'Melissa, lass dem armen Mädchen seinen Freiraum', das er jeden zweiten Tag von sich gegeben hatte. Was wohl mitunter einer der Gründe war, wieso heute Jeff und nicht er hier stand.

"Wo willst du denn so spät noch hin?" So spät? War es nicht gerade noch 16 Uhr gewesen? "Wie spät ist es denn?", fragte ich unschuldig und verengte meine Augen leicht, als ich Jeff ansah. Jeff hielt mir nur stumm seine vergoldete Uhr hin. Wie ich diesen Kerl verabscheute. Immer wollte er sich so extravagant wie nur möglich präsentieren. Dabei konnte er nicht einmal richtig mit einem Teenager umgehen. 

Mein Blick fiel auf die Zeiger der Uhr, es war mittlerweile schon wieder 19 Uhr. "Ich übernachte heute bei einer Freundin", erklärte ich flüchtig die Situation, in der Hoffnung, die beiden würden mich dann endlich in Ruhe lassen und meinen Worten einfach einmal Glauben schenken.

"Bei wem?" Mum sah mich sichtbar sauer darüber an, dass ich ihr nichts davon gesagt hatte. Und auch Jeff verengte seine Augen. Aber um ehrlich zu sein hatte ich diese Entscheidung ja gerade erst vor zehn Sekunden gefällt, wie hätte ich ihnen etwas davon erzählen sollen? "Ashley, du kannst gerne ihre Eltern fragen", meinte ich kurz. Sie nickte und verschwand mit Jeff im unteren Stock. Ich konnte schon vor mir sehen, wie sie gemeinsam vor dem Telefon hockten, beide am Hörer lauschend, und Ashleys Mum fragen würden, ob ich mit ihnen etwas ausgemacht hätte. Diese würde dann verneinen und Jeff würde wieder einmal völlig ausrasten.

Jetzt hieß es dann wohl schnell sein. Ich schnappte mir im Badezimmer die letzten Sachen, sauste die Treppe nach unten und wollte mir eine Jacke holen, als mir einfiel, dass ich noch Liams Jacke anhatte, die so nach Rauch und Wald roch. Ich sog den Duft einen kurzen Moment lang ein und fühlte mich sicher, aber auch beobachtet. Meine Schuhe hatte ich nie ausgezogen, weshalb ich jetzt eilig zur Haustür ging und sie dann mit gemischten Gefühlen hinter mir schloss. Jetzt stand ich draußen, umgeben von der dunklen Nacht. Es war wirklich kalt! Ich musste endlich hier weg, bevor die beiden kommen würden. Aber wohin?

Zu Ashley konnte ich nun auch nicht mehr gehen, da sie es erwarten würden. Dann würde ich wohl Claire besuchen müssen. Langsam trottete ich die Straße entlang und drehte mich noch einmal kurz um, nur um zu sehen, dass in der Ferne, genau dort, wo mein Haus stand, zwei verwirrte Erwachsene mein leeres Zimmer betraten. Schnell huschte ich um die Ecke und nahm eine Abkürzung durch den Wald. Ich würde diesen Streit sicher nicht verlieren! Egal, ob ich dafür zehn oder zwanzig Jahre Hausarrest bekommen würde. Das war es mir wert!

What about you, Liam?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt