Prudence

Kapitel 30

•dreißig•

  ❝ Warum willst du zurückkehren in diese düstere, graue Vergangenheit, wenn du in einer hellen, klaren Gegenwart lebst? Ist es die Angst vor der Ungewissheit, die die Zukunft bereithält oder dein unmögliches Gefühl, nicht loslassen zu können?  ❞

  

KEIN WORT DIESER Welt könnte dieses eine kostbare Gefühl beschreiben. Ich gehe sogar so weit und behaupte, dass kein Autor dieser Welt genau das zu Papier bringen könnte, was ich fühle. Diese Mischung aus unberechenbarer Wut und tiefer Trauer verbunden mit diesen unbeschreiblichen Glücksgefühlen und der Hoffnung, dass endlich Stückweise das Leben in meinen Körper zurückkehrt.

Ich würde mich selbst belügen, wenn ich an dieser Stelle sagen würde, dass ich glücklich wäre ... dass diese Worte von Louis mich aus dem tiefen Loch gezogen haben ... dass diese dunkle Zeit endlich ein Ende gefunden hätte. Schon nach wenigen Sekunden verschwindet dieses berauschende Gefühl und lässt nichts weiter als Leere zurück. Und ich hasse mich dafür, dass ich Louis nicht einfach in die Augen blicken kann und diesen einen Satz mit einem Lächeln auf den Lippen erwidern kann, nicht nach diesen verschnörkelten Worten meiner besten Freundin. 

Nicht nachdem ich feststellen musste, dass sich Prudence bereits zu dieser Zeit schon selbst aufgegeben hatte. Die Geschichte wird weiter gehen, nur werde ich den Stift aus der Hand legen und andere weiter schreiben lassen. 

Prudence hätte es verdient diese Geschichte in der Realität umsetzten zu dürfen und nicht ich. Prudence hätte dieses verdammte Röhrchen mit der Seifenblasenflüssigkeit zwischen ihren kleinen Fingern halten sollen und nicht ich. Sie hätte es verdient diesen einen Jungen zu finden und endlich die Chance bekommen, dieses eine besondere Gefühl zu beschreiben und nicht ich. 

Ich lebe diesen Traum, von dem sie ihr ganzes, kurzes Leben immer geträumt hat. 

Wütend werfe ich den silbernen Bilderrahmen auf den gefliesten Boden und sehe regungslos dabei zu, wie das Glas zerspringt und tausende kleine Splitter im Badezimmer verteilt. Jegliches Zeitgefühl scheint zu verschwinden, als ich langsam an der Seite der Badewanne zu Boden gleite. Bilder von Prudence und mir huschen durch meine Gedanken; Bilder von einer unbeschwerten Zeit, wo der größte Tiefpunkt in meinem Leben noch eine verloren gegangene Perle meines Handkettchens war. 

Tränen strömen aus meinen Augen, obwohl ich nicht das Gefühl verspüre, weinen zu wollen. Am liebsten würde ich mich erheben, das Fenster des Badezimmers aufreisen und all meine Kraft dazu verbrauchen in die raue Nacht Neuseelands zu schreien. Meine Beine fühlen sich an als hätten sie sich selbst gegen einen grauen, schweren Betonklumpen ausgetauscht. 

Zitternd greife ich nach dem Eisengestell und schütte auch die letzen Scherben zurück auf den Fußboden. Ein Liah ohne Prudence oder ein Prudence ohne Liah ist doch unvorstellbar, schrieb sie in ihrem Brief. Das Gefühl der unberechenbaren Wut strömt so blitzartig durch meinen Körper, dass ich das Bild aus dem Rahmen nehme, einreiße und auf den Scherbenhaufen werfe.

Das erste Mal in meinem Leben verspürte ich nichts weiter als Verachtung und Hass für meine beste Freundin. Sie wusste damals genau, was sie zu Papier brachte und sie wusste genau, dass ich diese Zeilen lesen werde; Prudence wusste, dass es nur noch eine Frage der Zeit war, bis dieser Satz zur Wirklichkeit werden würde. 

Ich werde immer bei dir sein. Das war eine Lüge, die mich in diesem Moment mit einer solch enormen Wucht trifft, dass mir übel wird und ein Frösteln meinen Körper überfällt. 

Wenn wir alt sind werden wir zusammen den Epilog unserer Geschichte schreiben. Ich hasste Prudence dafür, dass sie sich dazu entschlossen hat ihren Epilog ohne mich zu schreiben, dass sie ihr Leben mit einer einzigen neon-grünen Linie auf schwarzen Hintergrund beendet hatte.