Kapitel 29

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•neunundzwanzig•

   ❝ Eines Tages wird dieser eine Moment kommen, wenn ich nicht mehr genau weiß, wie ich es beschreiben soll ... dieses eine Gefühl und dann wird mir jemand auf meine Schulter tippen und mir sagen, dass kein Wort dieser Welt, diesen Moment beschreiben kann. Liah, auf diesen Moment freue ich mich schon, denn dann weiß ich, dass jedes Puzzleteil seinen Platz an der richtigen Stelle eingenommen hat. 

 

EIN EINZIGES WORT kann alles verändern, wenn es nur zum richtigen Zeitpunkt ausgesprochen wird und wie aus dem Nichts kann sich das Gefühl von Enttäuschung in Wut und Hass zugleich verwandeln. Wut und Hass kann sich aber auch in Enttäuschung verwandeln und das Gefühl des Glücklichseins in Trauer und Trauer in Glück.

Ich bin immer der Meinung gewesen, man könnte nur ein einziges Gefühl zu einem Zeitpunkt fühlen, aber das stimmt nicht. Gerade fühlt es sich so an, als würden sich meine Emotionen sekündlich ändern.

Zitternd greife ich nach dem pinken Umschlag, auf welchen Prudence Nur für Liah drauf geschrieben hat. Ich habe keine Ahnung, wieso ich nicht bei Louis bin und mit ihm spreche. Ich bin froh, dass er von mir keine Antwort erwartet hat und wir wortlos zurück in das Hotel gefahren sind.

Ich schulde ihm eine Antwort, das weiß ich, doch ich kann sie ihm in diesem Moment einfach noch nicht geben, nicht bevor ich weiß, was Prudence in diesem Brief geschrieben hat. Sie hat mir damals bei der Übergabe ihres Tagebuches nicht gesagt, dass sich ein Brief in ihm befindet.

Ich habe Angst vor dem Inhalt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht diese Art von Abschiedsbrief ist, die man immer wieder in Büchern zu lesen bekommt, aber irgendwie glaube ich, dass Prudence mir ihren Abschied erklären wird. Sie wusste damals schon so lange, dass sie krank ist und dass die Heilungschanchen gleich null sind und doch wirkte sie immer so glücklich ... und fröhlich.

Vorsichtig löse ich den Klebestreifen auf der Rückseite des Umschlages, um diesen endgültig zu öffnen und einen dicken Stapel an hellrosa farbenden Zetteln herauszuziehen.

Ich atme tief durch, bevor ich beginne die ersten Zeilen zu lesen.

Liah,

Hallo Liah,

Prudence hier!

Prudence grüßt Liah!

Wie geht es Troy?

Hier soll eine Musterzeile stehen Liah, malst du sie für mich, wie damals in der Grundschule immer?

Ich finde es eigenartig, dass man einen Brief immer mit einer solchen komplett bescheuerten Anrede beginnen muss. Warum kann ich nicht einfach einen Spruch nehmen und dann mit meiner Nachricht an dich beginnen? Ja, ich weiß, wir haben es damals in der Middleschool gelernt, wie ein Brief aufgebaut sein muss. Mit Briefkopf und der Nachricht und der Verabschiedung am Schluss. Aber was ist, wenn ich mich doch gar nicht verabschieden möchte?

Wenn ich einfach gerade noch nicht bereit dazu bin, Lebewohl zu sagen?

Bitte ignoriere diese lächerliche Träne, die kam nur weil ... ich meinen Knöchel wieder einmal zu sehr belastet habe. Ich glaube, es wäre besser gewesen, einmal auf Mum zu hören und nicht diese Schuhe anzuziehen, aber das ist so schwer, Liah. Ich liebe doch diese Schuhe so sehr.

Ich weiß nicht genau, wie ich beginnen soll. Ich weiß nicht einmal, wann du diesen Brief lesen wirst.

Ich weiß gerade nur, wenn du das hier liest, dass du mein Tagebuch in deiner Hand hältst und dieser Brief vermutlich heraus gefallen ist. Vielleicht warst du gerade auch wütend auf mich und hast mein Buch gegen die Wand geworfen oder du hast gefunden, als du deinen Keller ausgeräumt hast, weil du umziehst. Oder du hast es ganz einfach aufgeklappt, weil du eine Antwort auf eine Frage haben möchtest.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt