Prolog

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•prolog•

"DER GEDANKE AN den Tod kann befreiend sein. Er kann einem das Gefühl vermitteln, alles Schlechte zurück zu lassen und von Grund auf neu zu beginnen. Er kann dich von Schmerzen und Leid erlösen, er kann dich vergessen lassen. Doch andererseits kann der Tod beängstigend und furchteinflößend sein, er kann einen abstoßen und beunruhigen. Der Tod kann Träume und Wünsche zerstören. Er kann dir das Gefühl der Schwerelosigkeit übermitteln und dich dahin fliegen lassen, wo es keine Ängste, Träume und Wünsche mehr gibt. In diese eine Welt, in welcher alles möglich ist. Für Prudence war der Tod immer schon ein Spiel gewesen, welches sie bis zum Ende hin mit einer solchen Bravur gespielt hatte. Sie zählte nie zu den Menschen, die Angst haben, einmal zu sterben. Sie träumte stets davon, vogelfrei zu sein. Prudence war das stärkste Mädchen, das ich je in meinem Leben kennen lernen durfte, auch wenn sie viel zu schnell wieder gehen musste."

Ich blicke in den Himmel und betrachte die Wolken, die über meinem Kopf und den Köpfen der Trauergemeinde langsam hinweg zogen. Ich hätte mir gewünscht, dass Brighton wenigstens einmal im Jahr von keiner Wolkenschicht bedeckt war.

"Prudence, ich weiß, dass du auf einer dieser Wolken sitzt und alles von oben betrachtest. Für dich war es schon immer aufregend gewesen, der Mittelpunkt des Geschehens zu sein." Für einen kurzen Augenblick blickte ich zurück in den Himmel.

"Du hast es geliebt, wenn andere rund um dich lebendig waren, du hast dein wunderschönes Lächeln denjenigen geschenkt, die nicht gelacht haben. Du hast dein Lächeln niemals verloren, auch nicht am Ende deiner Zeit, du hast in deinen Tod gelächelt. Jeder andere Mensch hätte geweint, doch du hast gelächelt und gesagt, mir geht es gut, siehst du Liah, mir geht es sehr gut, dann hast du deine Augen geschlossen und nie wieder geöffnet."

Der Tränenfilm, der sich die ganze Zeit in meinen Augen befand, löste sie endgültig. Ich habe es Prudence versprochen nicht zu weinen. "Es tut mir Leid, dass ich dieses Versprechen brechen muss, Prudence", sagte ich mit zitternder Stimme und blickte zu ihren Eltern, die auf den Stühlen in der ersten Reihe saßen und meiner Rede folgten. Ein Teil er Trauergemeinde blickte starr auf den Erdboden, während andere leise vor sich hin schluchzten.

"Ich vermisse dich, Prudence. Ich vermisse unsere stundenlangen Gespräche und ich vermisse es einfach deinen verrückten Worten zu lauschen. Ich vermisse es, wie du mir immer gesagt hast, dass ich stark sein solle, obwohl du diejenige warst, die diese Worte gebraucht hätte. Ich hätte dir diese Worte in deine Ohren flüstern müssen. Ich hätte diejenige sein müssen, die stark hätte sein sollen, doch ich war die Schwächere von uns."

Ich versuchte ein Lächeln auf meine Lippen zu zaubern, doch ich scheiterte an dieser einfachen Aufgabe und blickte zurück in den Himmel. Ich hoffte, dass Prudence mich sah und hörte. Vielleicht war sie bereits ein Engel, wie es mir meine Großmutter, als ich noch klein war, immer erzählt hatte. Ich hoffte es.

"Menschen, die zu früh diese Welt wieder verlassen müssen, werden als Engel benötigt", murmelte ich leise und sah wie meine Großmutter, meinen Bruder in ihre Arme zog und beruhigend über seinen Kopf strich. "Hätte mir als kleines Kind jemand gesagt, dass diese Theorie kein Märchen ist, hätte ich gelacht und mein großes Märchenbuch geholt. Ich hätte euch allen gezeigt, dass Engel keine toten Menschen sind." Meine Großmutter nickte und wischte sich die Tränen aus ihren Augen.

"Prudence weißt du was?", fragte ich in diesem Ton, in dem sie immer mit mir sprach, wenn sie mir etwas zu erzählen hatte. "Für mich ist es unvorstellbar, dass du nicht mehr hier bei mir bist, dass du nun Lichtjahre von mir entfernt bist. Dass du tot bist", leise murmelte ich die Worte, die so schwer über meine Lippen kamen. "Ich saß oft auf dem Schaukelstuhl in unserem Wohnzimmer und starrte auf die Türe in der Hoffnung, dass du sie öffnest und dein wunderbares Lächeln den gesamten Raum ausfüllen würde. Ich wünschte, ich hätte einen Teil deiner Lebensfreude in ein Glas gesperrt, so könnte ich jetzt den Deckel abdrehen und alle daran teilhaben lassen. Die meisten haben dich nicht so gekannt, wie ich dich kenne. Viele haben in dir nur das blonde Mädchen gesehen. Doch für mich warst du nicht nur das blonde Mädchen, für mich warst du Prudence, der wichtigste Mensch in meinem Leben und das wird auch diese unendliche Distanz zwischen uns niemals ändern. Du hast den wichtigsten Platz in meinem Herzen eingenommen und dies wird auch immer so bleiben."

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt