Kapitel 39

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•neununddreißig•

"Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich mag, obwohl ich mit jedem Atemzug versuche, genau dagegen anzukämpfen. Jede Faser meines Körpers erwärmt sich nur, wenn du die Enden deiner Lippen anhebst und als Endprodukt dieses atemberaubende Lächeln zu Vorschein kommt. Und doch fühlt es sich nicht richtig an."

OFT GENUG HABE ich schon versucht diese innere Stimme zu belügen, doch zu welchem Preis? Dass ich mich Nacht für Nacht damit herumgeschlagen habe, eine Lösung aus dieser Situation zu finden und mich am Morgen müde in die Küche zu schleppen, um mich mit einer Tasse von Mums starken Kaffee wachzuhalten. Jedes Mal aufs Neue habe ich meine eigene Dummheit dahingehend verflucht, dass ich nicht aus diesen Dingen lernen konnte.

Unruhig verlagere ich mein Körpergewicht abwechselnd auf eines meiner beiden Beine. Louis blickt mich mit seinen wunderschönen Augen starr und emotionslos an. Es ist ein magischer Moment, welcher uns beide in einen unbeschreiblichen Bann zieht.

Seine Nase weist einen leicht rötlichen Schimmer von der rauen Temperatur auf, welche ihn viel jünger als annehmbar erscheinen lässt. Sein Beanie verdeckt nur zum Teil seine unberechenbare Mähne. Gerne würde ich in diesem Moment nach den losen Haarsträhnen greifen und Louis so nahe wie nur möglich an mich ziehen.

Der Moment, etwas mit Worten zu erwidern ist schon längst verfolgen.

Zurück bleibt ein einziger Augenblick, welcher keine Erwiderung erwünscht, an einem Ort, der tagtäglich von Stille umgeben ist.

Einzig allein die Blätter, welche durch den Wind aufgewirbelt werden, bringen Abwechslung in diese trostlose Welt, die sich auch ohne die ganzen Toten weiterdreht.  

'Was glaubst du denken Menschen als Letztes?' Prudence knöchrige, kalte Hand legt sich vorsichtig auf meine warme. Ihre großen, grünen Augen starren mich an. Innerlich möchte ich schreien und ihre Hand von meiner entfernen. Dieser Gegensatz ist so falsch, so verkehrt und doch fühle ich mich machtlos, mich auch nur im Geringsten zu bewegen.

Ihre krächzende Stimme hat die Wirkung von vielen kleinen Nadelstichen auf mich. Schon seit Wochen erwache ich Nacht für Nacht schreiend aus demselben Traum, in welchem Prudence Stimme nach und nach verstummt. So weit, bis sie am Ende so weit entfernt ist und meine Schreie sie nicht mehr erreichen können. Und kein einziges Mal dreht sie sich um. Stur geht sie Schritt für Schritt gerade aus, während ich immer fester gegen eine unsichtbare Wand stoße.

'I-ich habe keine Ahnung, Prudence', gib ich ehrlich zu und entferne meine Hand vorsichtig von ihrer, ohne sie ein weiteres Mal anzublicken. Es ist eigensinnig und egoistisch, doch was habe ich für eine Wahl? Ich weiß, dass meine beste Freundin sterben wird, nur das Datum ist noch ungewiss. Ich beginne zu zittern, schließe meine Augen und versuche Gedanken zu wecken, die mich weit weg von all dem bringen. Die dazu in der Lage sind diese fürchterliche Dunkelheit zu durchdringen und die Sonnenstrahlen zurückzubringen. Die das laute Lachen und die Fröhlichkeit hervorrufen und die, die die gelben Wände zum Einsturz bringen und das Meer in greifbare Ferne bringen.

Frühling. Ich spüre die ersten warmen Sonnenstrahlen, wie sie auf meiner Nasenspitze herumtanzen.

Frische. Die Erinnerung an die ausgewaschene Welt, nach dem ersten Frühlingsregen.

Ich möchte nichts mehr denken müssen; ich will nicht wissen, was in einer Stunde sein kann oder morgen oder in einer Woche. In einem Monat? Jahr?

'Es ist bestimmt ein schönes Gefühl', krächzt sie und zieht auch ihre Hand zurück. 'Endlich fliegen zu können'. Ein leichtes Lächeln stiehlt sich auf die Lippen von Prudence.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt